»Bei Fresenius herrscht eine Atmosphäre der Angst«, berichtet Cass Gualvez vom Vorstand der US-Gewerkschaft SEIU-United Healthcare Workers. Die rund 3.000 Beschäftigten in den 185 Dialyse-Kliniken von Fresenius im US-Bundesstaat Kalifornien haben keinen Schutz durch Tarifverträge. Statt einen Einstiegslohn von 28 Dollar (23,83 Euro) pro Stunde, wie er im Tarifvertrag festgeschrieben ist, bezahlt die Tochter des deutschen Konzerns Neueingestellten gerade mal 15 Dollar (12,77 Euro). Einige Pflegekräfte wollen das ändern und haben sich der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU-UHW angeschlossen, die im kalifornischen Gesundheitswesen 93.000 Beschäftigte organisiert. Vom 11. bis zum 15. Dezember 2017 war eine Delegation in Berlin, um sich mit Gewerkschaftern und Betriebsräten von Fresenius in Deutschland zu vernetzen.
Auslöser der Bewegung für einen Tarifvertrag war der Plan des Fresenius-Managements, die Schichtpläne zu ändern. Statt zehn sollten die Pflegekräfte zwölf Stunden am Tag arbeiten. Für die Betroffenen wäre das eine Katastrophe gewesen. Denn fast alle von ihnen haben zwei Jobs: Einen bei Fresenius, den anderen beim Konkurrenten DaVita, der gemeinsam mit dem Unternehmen den Dialyse-Markt in den USA dominiert. Bei beiden Firmen arbeiten sie nun jeweils drei Schichten à zwölf Stunden – zusammen 72 Stunden in der Woche, mit nur einem Tag frei. »Wenn ich meinen zweiten Job aufgeben müsste, könnte ich die Zinsen für mein Haus nicht mehr bezahlen«, sagt Emerson Padua, der seit 17 Jahren in San Bernardino als Pflegeassistent arbeitet. »Das hat mich zur Gewerkschaft gebracht.« Als Reaktion auf die gewerkschaftliche Organisierung hat Fresenius den langjährig Beschäftigten zwar zugestanden, beim alten Schichtmodell zu bleiben, für Neueingestellte sollen aber andere Bedingungen gelten. Und Tarifverträge verweigert der Konzern weiterhin.
Wenn Emerson Padua über die Ereignisse der vergangenen Monate erzählt, kommen ihm die Tränen. Er berichtet davon, wie Vorgesetzte nach einer Kundgebung im Mai versuchten, die Beschäftigten einzuschüchtern und einen Keil in die Belegschaft zu treiben. »Ich sollte sagen, welche Patienten wir in Zukunft nicht mehr aufnehmen. Denn wenn sich die Gewerkschaft durchsetze, könne man nicht mehr alle versorgen und müsse Kliniken schließen«, so der 42-Jährige. »Das will natürlich niemand.«
Die Pflegehelferin Asra Abbasi aus der Fresenius-Klinik in Colton berichtet von ständigen Kontrollen, seit sich in der Einrichtung gewerkschaftlicher Widerstand regt. »Wir werden jetzt mehrmals im Monat bei der Arbeit beobachtet, das setzt einen enorm unter Stress.« Die Botschaft: Wer sich in der Gewerkschaft engagiert, steht im Fokus, darf sich keine Fehler erlauben. »Das soll die Aktivisten isolieren und andere davon abhalten, die Gewerkschaft zu unterstützen«, ist Asra Abbasi überzeugt. Auch die Krankenpflegerin Lupe Tellez aus Ventura ist sich sicher, dass die sogenannten Audits bei gewerkschaftlich aktiven Belegschaften besonders häufig stattfinden. Früher hätten sie vor allem der Qualitätsverbesserung gedient, heute gehe es um Disziplinierung.
Doch die Klaviatur der Gewerkschaftsfeinde kennt noch ganz andere Tonlagen. So wird Neueingestellten den Berichten zufolge ein Video vorgespielt, das vor der Gewerkschaft warnt und neue Beschäftigte auffordert, es Vorgesetzten zu melden, wenn Kolleg/innen über die Gewerkschaft sprechen. Andere berichten sogar von Gewaltdrohungen oder dem Versuch, negative Gerüchte über Gewerkschaftsaktive zu verbreiten. Diese würden auch in Einzelgesprächen eingeschüchtert oder bei Lohnerhöhungen benachteiligt. »Wenn es keinen Tarifvertrag gibt, herrscht Willkür, dann kann der Arbeitgeber machen, was er will«, sagt Lupe Tellez, die sich von all dem nicht einschüchtern lassen will. »Ich werde nicht damit aufhören, für die Gewerkschaft einzutreten. Das ist unser Recht.«
Die Krankenpflegerin ist auch deshalb so entschlossen, weil sie die Willkür bei Fresenius oft hautnah miterlebt hat. Sie erzählt beispielsweise von der alleinerziehenden Mutter zweier Kinder, die bei der Arbeit stolperte und sich den Fuß brach. »Sie wurde entlassen – nach über 24 Jahren im Unternehmen«, so Lupe Tellez. Generell gebe es bei Krankheit keine Lohnfortzahlung. Wer sein Gehalt weiter bekommen wolle, müsse Urlaub nehmen.
Solche und viele weitere Berichte hinterließen bei den deutschen Kolleg/innen großen Eindruck. »Das hat uns sehr betroffen gemacht«, so Rainer Stein, Vorsitzender des Europäischen Betriebsrats von Fresenius sowie des Konzernbetriebsrats der Fresenius-Tochter Helios. Offensichtlich stehe das Vorgehen von Fresenius in den USA in Widerspruch zu den eigenen Compliance-Regeln. Beschäftigte, die sich unter solchen Bedingungen für ihre Rechte engagierten, hätten hohe Anerkennung und jede Unterstützung verdient, betont Stein. Die hiesigen Beschäftigtenvertreter wollten »auf allen Ebenen dafür eintreten, dass diese gewerkschaftfeindlichen Aktivitäten ein Ende finden«. Man werde das Thema sowohl beim Europäischen Betriebsrat als auch beim Aufsichtsrat zur Sprache bringen. Für David Miller von der SEIU-UHW wäre das ein wichtiger Schritt. »Wir haben in den USA keine Möglichkeiten, mit dem Konzern in Dialog zu treten. Deshalb hoffen wir sehr auf die Hilfe der deutschen Betriebsräte und der Gewerkschaft ver.di.«
»Wir wollen nichts weiter als eine faire Wahl: Die Beschäftigten sollen selbst und ohne Einflussnahme entscheiden können, ob sie eine gewerkschaftliche Vertretung haben wollen oder nicht«, erläutert die Gewerkschafterin Cass Gualvez. In den USA gelten Tarifverträge nur, wenn sich die Mehrheit der betreffenden Belegschaft in einer Abstimmung dafür ausspricht. Diese Abstimmungen könnten aber nicht in einem Klima der Angst stattfinden, so die SEIU-Funktionärin. »Wir sind gerne bereit, partnerschaftlich mit Fresenius zu arbeiten und uns beispielsweise zusammen für eine ausreichende Finanzierung des Gesundheitswesens einzusetzen.« Ziel der Gewerkschaft sei letztlich ein Flächen- bzw. Konzerntarifvertrag, der die gesamte Dialysebranche erfasst. Vorbild ist in dieser Hinsicht New York, wo die Gewerkschaft in den meisten Kliniken Kollektivverträge durchgesetzt hat.
Doch es geht der Gewerkschaft nicht nur um eine tarifliche Bezahlung, auch die Arbeitsbedingungen und die Personalausstattung sollen sich verbessern. Zwar gibt es in Kalifornien eine gesetzliche Personalbemessung. Sie gilt aber nur in Akutkliniken, nicht in Dialyseeinrichtungen. Die SEIU-UHW will, dass auch hier personelle Mindeststandards etabliert werden. Zum Teil sei eine examinierte Pflegekraft zusammen mit zwei Assistent/innen für bis zu 21 Patientinnen und Patienten zuständig, berichtet der Pfleger Emanuel Gonzalez. »Es kann nicht sein, dass die Konzerne Personal abbauen, um ihre Profite zu steigern, und wir die Patienten nicht mehr richtig behandeln können«, findet er. Die Behandlungen müssten in 10 bis 15 Minuten vorbereitet werden – zu wenig, um die vorgeschriebenen Hygienestandards einzuhalten. Cass Gualvez hält gesetzliche Personalvorgaben für entscheidend, um Krankenhausinfektionen zu verhindern. Oft bleibe den Pflegekräften beispielsweise nicht genug Zeit, die Hände ausreichend zu desinfizieren. Es sei daher nicht nur im Interesse der Beschäftigten, sondern auch der Patientinnen und Patienten, wenn sich die Gewerkschaft für gesetzliche Personalstandards in Dialyse-Kliniken einsetze.
Bei der Bundestagsabgeordneten Leni Breymaier, die die US-Gewerkschafter/innen im Parlament besuchten, stießen sie mit dieser Argumentation auf große Offenheit. »Es ist eine gesellschaftliche Frage, wie mit denjenigen umgegangen wird, die andere Menschen pflegen«, so die baden-württembergische SPD-Vorsitzende. Die Vorgänge in den USA zeigten, »dass die Konzerne keine Grenzen kennen und machen was sie wollen, wenn es keine starken Gewerkschaften gibt«. Die Politikerin sagte den Fresenius-Beschäftigten zu, das Verhalten des deutschen Konzerns in den USA wo immer möglich zu thematisieren.
Auch für Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand ist klar: »Solchen profitorientierten Konzernen dürfen wir das Gesundheitswesen nicht überlassen.« ver.di werde dabei helfen, »diesen Skandal öffentlich zu machen«. Das sei nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch im Eigeninteresse der Beschäftigten in Deutschland. »Denn wenn die Konzerne damit in den USA durchkommen, werden sie versuchen, das auch hier zu machen«, prophezeite Bühler. Sie zeigte sich beeindruckt von dem Mut der kalifornischen Pflegekräfte, für ihre Interessen einzustehen. »Ihr habt bessere Arbeitsbedingungen verdient – dafür setzen wir uns gemeinsam ein.«