Wie wollen wir pflegen? Über diese Frage führen in ver.di organisierte Pflegekräfte eine intensive Debatte. So zum Beispiel auf einer Pflegekonferenz am 7. März 2020 in Kaiserslautern, bei der mehr als 100 beruflich Pflegende aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland zusammenkamen. Melanie Wehrheim, die den Bereich Berufspolitik beim ver.di-Bundesfachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen leitet, präsentierte zum Auftakt eine Reihe von Thesen, die von den Teilnehmer*innen bei einem »Open Space« ausführlich und zum Teil auch kontrovers debattiert wurden.
»Wir wollen eine starke und selbstbewusste Pflege – und dazu gehört, dass die Kolleginnen und Kollegen über ihr Selbstverständnis und ihre Ansprüche als beruflich Pflegende miteinander reden«, betont Wehrheim. »Je breiter diese Debatte geführt wird, desto besser.« Koordiniert und vorangetrieben wird das Thema in der »Projektgruppe Pflege«, die ver.di auf Bundesebene eingerichtet hat und in der die Thesen gemeinsam erarbeitet wurden. »Wir wollen die Pflege sichtbar machen – innerhalb von ver.di und in der Öffentlichkeit«, erläutert der Pflegelehrer Eberhard Bruch, der sich in der Projektgruppe engagiert. Bei der Pflegekonferenz in Kaiserslautern sei bereits »sehr rege diskutiert worden«, berichtet er.
So zum Beispiel über die Frage der »Akademisierung« der Pflegeberufe. Nach Bruchs Auffassung widerspiegelt die Debatte hierzu »die Planlosigkeit der beruflichen Praxis«. Es sei eine hochschulische Erstausbildung etabliert worden, ohne zu prüfen, welchen Bedarf es in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen überhaupt gibt. »Normalerweise schaut man, was in der Praxis gebraucht wird, und dann schafft man die entsprechenden Qualifikationen – nicht umgekehrt«, kritisiert der Gesamtbetriebsratsvorsitzende der DRK Krankenhaus GmbH Rheinland-Pfalz. Das sei unseriös und gegenüber den Studierenden verantwortungslos. Diesen werde von den Hochschulen »das Blaue vom Himmel versprochen«, doch in den Betrieben gebe es noch keine Konzepte, für welche besonderen Tätigkeiten hochschulisch ausgebildete Pflegekräfte eingesetzt werden sollen.
Die Gesundheits- und Krankenpflegerin Gabriele Korz-Beizig hält es dennoch für sinnvoll, hochschulische Erstausbildungen zu etablieren: »Es gibt nur wenige Länder in Europa und weltweit, in denen die Pflege nicht akademisiert ist. Und von der EU gibt es die klare Forderung, dass Deutschland sich an diesen Standard anpasst.« Sie hofft, dass Pflegekräfte gegenüber Ärztinnen und Ärzten ein besseres Standing bekommen, wenn sie ebenfalls ein Hochschulstudium vorzuweisen haben. »Das muss allerdings ganz anders laufen als im Moment«, betont Korz-Beizig, die als Pain Nurse in der Anästhesie des Westpfalzklinikums Kaiserslautern arbeitet. Heute hätten Pflegekräfte, die aus der Hochschule an die Kliniken und Pflegeeinrichtungen kommen, oft kaum Praxiserfahrungen. Dennoch übernehmen sie meist sofort Leitungsfunktionen. »Wir brauchen ein duales Studium mit hohen Praxisanteilen«, betont die Krankenpflegerin. »Wenn erfahrene Pflegekräfte berufsbegleitend studieren, sollte ihr Know-how als Studienleistung angerechnet werden. Examinierte, die das wollen, könnten so leichter einen Studienabschluss erreichen. Damit würden praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Methoden gut zusammengebracht.«
Die Gesundheits- und Krankenpflegerin Silke Präfke vom Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz ist davon überzeugt, dass akademisierte Pflege in einigen Bereichen sinnvoll ist. »Wir brauchen sie für Lehre und Forschung, im Management, für Beratung und Unterstützung. Aber es gibt bislang überhaupt kein Konzept dafür, welche Rolle sie bei der Pflege am Menschen spielen soll«, kritisiert die Präsidentin des ver.di-Pflegebeirats Rheinland-Pfalz. Auf klare Ablehnung stoßen bei ihr Pläne, eine hierarchische Abstufung der Pflege zu etablieren. So schwebt beispielsweise dem CDU-Gesundheitspolitiker Erwin Rüddel in Bezug auf die Altenhilfe vor, dass akademisierte Pflegekräfte den Pflegeprozess planen und überwachen, die praktische Pflege aber vor allem oder ausschließlich ein- oder zweijährig ausgebildeten Hilfskräften überlassen bleibt.
»Das wäre eine Rückkehr zur Funktionspflege, die wir bewusst überwunden haben, weil wir den Patienten als ganzen Menschen wahrnehmen müssen«, so Präfke. Als sie Mitte der 1980er Jahre ihre Krankenpflegeausbildung begann, war es noch so, dass die eine Pflegekraft »wie in einer Fabrik« den ganzen Tag Patient*innen waschen, die nächste bei einem Patienten nach dem anderen Fieber messen musste etc., während die Stationsschwester im Büro saß und die Kolleginnen einteilte. »Dahin will ich nicht zurück, denn moderne Pflege bedeutet selbstbestimmtes Arbeiten. Wer eine gute Pflegeplanung machen will, muss die Patientinnen und Patienten regelmäßig zu Gesicht bekommen, um den Pflegeprozess immer wieder anpassen zu können.«
Der Gesundheits- und Krankenpfleger Stefan Heyde, der als Leihbeschäftigter derzeit vor allem in der Altenpflege arbeitet, hält den Kontakt mit den Bewohner*innen ebenfalls für sehr wichtig. »Im persönlichen Gespräch mit den Menschen tauchen manchmal Probleme oder auch Ressourcen auf, die man der Diagnose nicht entnehmen kann.« Den Einsatz von Hilfs- oder Assistenzkräften zur Entlastung der Pflegefachkräfte hält der 38-Jährige zwar grundsätzlich für sinnvoll. »Es wäre aber falsch, wenn sich die Examinierten ganz oder weitgehend aus der Grundversorgung herausziehen würden. Denn wenn man sich nur auf die Berichte von Hilfskräften verlässt, bekommt man viele wichtige Informationen nicht mit, die für die Planung des Pflegeprozesses wichtig sind.«
Eberhard Bruch teilt diese Auffassung und kritisiert deshalb, dass die »Durchführung der Pflege« nicht zu den im neuen Pflegeberufegesetz definierten Vorbehaltsaufgaben gehört. »Die Planung, die Festlegung der Ziele und Maßnahmen müssen mit der praktischen Arbeit am Patienten verzahnt sein, denn anders kann man nicht überprüfen, ob die Maßnahmen zum Erfolg führen oder Änderungen nötig sind«, argumentiert der Pflegelehrer. Die Idee, die Aufgaben zu trennen und auf Pflegende verschiedener Qualifikationen zu verteilen, hält er in erster Linie für ein Rationalisierungskonzept. Dass wenige akademisierte Pflegekräfte nur noch Hilfskräfte anleiten sollten, die das Gros der praktischen Arbeit übernehmen, diene vor allem der Kostensenkung und Profitsteigerung. »Und genau diese Profitorientierung ist es, der wir die heutige Krise zu verdanken haben«, betont Bruch.
Hilfskräfte müssten zusätzlich eingesetzt werden und dürften Fachkräfte nicht ersetzen, so der Tenor der bisherigen Diskussionen. Das gelte auch für die Altenpflege, wo sich die Klientel verändert und einen deutlich höheren Pflegebedarf aufweist als früher, was erhöhte Anforderungen an die Pflegenden nach sich zieht. Deshalb seien in den Pflegeeinrichtungen ebenfalls mehr, nicht weniger Fachkräfte nötig, betont Bruch. Dafür sollte unter anderem Hilfskräften der Einstieg in eine Fachausbildung ermöglicht werden, wenn sie dies wünschen. »Wir wollen keine Satt-und-Sauber-Pflege, sondern die Selbstständigkeit der Menschen erhalten und ihre Kompetenzen fördern«, bringt es der Pflegelehrer auf den Punkt. »Das muss unser Anspruch sein – und das geht nur mit genug Fachkräften.«
Dass diese Fachkräfte »auf dem Markt nicht zu finden« seien, lässt der ver.di-Pflegebeauftragte für Rheinland-Pfalz und das Saarland, Michael Quetting, nicht gelten: »Wenn die Arbeitsbedingungen, und speziell in der Altenpflege auch die Bezahlung, verbessert werden, können genug Menschen für diese wunderbaren Berufe gewonnen werden – davon bin ich überzeugt.« Die beruflich Pflegenden müssten ihre Arbeit endlich so machen können, wie sie es gelernt haben und wie es ihren eigenen Ansprüchen genügt. »Wenn die Pflege zum Subjekt wird und für ihre Interessen einsteht, werden wir das erreichen.«
ver.di Bundesverwaltung