»Wir sind für euch da«, verkünden Physiotherapeut*innen aus ganz Deutschland in einem über das Internet verbreiteten Videoclip. »Damit gerade jetzt die Kapazitäten in den Krankenhäusern frei bleiben«, ist eine ihrer Begründungen. Denn würden die Therapiepraxen während der Pandemie schließen, müssten etliche Patient*innen über kurz oder lang in die Kliniken eingeliefert werden, denen ohnehin eine Überlastung droht. »Zum Beispiel für Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder einem Schlaganfall ist eine kontinuierliche Behandlung extrem wichtig«, erläutert die Physiotherapeutin Sabine Seyfert-Hellwig, die bis vor kurzem in einer Praxis in Frankfurt am Main tätig war. Gleiches gelte für frisch operierte Patient*innen, die mit physiotherapeutischer Unterstützung schneller wieder auf die Beine kommen. »Zu Recht wurden wir deshalb für systemrelevant erklärt, auf uns kann man nicht verzichten.« Dennoch kämpfen viele Praxen in dieser Krise ums Überleben.
»Es gibt eine große Verunsicherung«, sagt Seyfert-Hellwig. Zum Beispiel beim Thema Hygiene: Manche Patient*innen bleiben zu Hause, aus Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Und auch die Beschäftigten sind zum Teil verunsichert. Es fehlt an Aufklärung. Und an Schutzmaterial, das wie überall im Gesundheitswesen derzeit Mangelware ist.
In dieser Situation haben einige Praxen den Betrieb eingestellt, obwohl sie als versorgungsrelevante Einrichtungen geöffnet bleiben dürften. In kleineren Praxen mit weniger als zehn Beschäftigten – in denen der gesetzliche Kündigungsschutz nicht greift – seien Kolleg*innen bereits entlassen worden, berichtet Seyfert-Hellwig. Anderswo werde Kurzarbeit beantragt. »In Frankfurt verdienen Physiotherapeut*innen in Vollzeit zwischen 1.900 und 2.500 Euro brutto«, rechnet die aktive Gewerkschafterin vor. »Wenn man wegen Kurzarbeit plötzlich nur noch 60 oder 67 Prozent davon hat, bleibt nicht mehr viel zum Leben – besonders in einer Stadt wie Frankfurt mit ihren hohen Mieten.«
ver.di fordert deshalb eine Anhebung des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes auf 80 Prozent des bisherigen Nettoeinkommens. Beschäftige, die monatlich auf weniger als 2.500 Euro netto kommen, sollen 90 Prozent erhalten. Von einer solchen Regelung würden fast alle, in Praxen angestellte Physiotherapeut*innen profitieren. »Eine solche Erhöhung ist dringend nötig, zumal viele Praxen gar nicht in der Lage wären, das Kurzarbeitergeld ihrer Beschäftigten aufzustocken«, gibt Sabine Seyfert-Hellwig zu bedenken. Grund hierfür sei die geringe Leistungsvergütung durch die Krankenkassen, die über Jahre hinweg um kaum mehr als den Inflationsausgleich gestiegen sei. Für eine 20-minütige Krankengymnastik gibt es aktuell 21,11 Euro, für andere Leistungen wie Lymphdrainagen zum Teil noch weniger. Auch Hanna Stellwag von der ver.di-Bundesverwaltung hält das für zu wenig: »Wenn man die Fixkosten abzieht, bleibt nicht genug, um die Beschäftigten für ihre hoch qualifizierte Arbeit angemessen zu vergüten.«
Auch in der aktuellen Krise seien die therapeutischen Praxen gegenüber niedergelassenen Ärzt*innen bislang benachteiligt. Laut Krankenhausentlastungsgesetz erhalten Arztpraxen einen finanziellen Ausgleich, wenn sie wegen der Corona-Pandemie Einnahmeausfälle von mehr als zehn Prozent verzeichnen. »Es ist gut und richtig, die vertragsärztliche Versorgung zu sichern. Gleiches muss aber auch für Praxen der Physio- und Ergotherapie, der Logopädie, der Podologie und der Diätassistenz gelten«, meint Stellwag. »Schon jetzt ist eine bedarfsgerechte therapeutische Versorgung wegen des hohen Fachkräftebedarfs oft kaum zu erfüllen. Wenn nun Praxen infolge der Krise Insolvenz anmelden oder Beschäftigte ihren Beruf aufgeben, wird sich der Mangel noch verschärfen.«
Die Gewerkschafterin begrüßt deshalb die Ankündigung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), nun auch für Heilmittelerbringer*innen wie Therapeut*innen einen Schutzschirm aufzuspannen. Demnach sollen diese eine einmalige Ausgleichszahlung von 40 Prozent der Vergütung des vierten Quartals 2019 erhalten. Zudem sollen zusätzliche Aufwendungen für Schutz- und Hygienemaßnahmen erstattet werden. Das Geld wird zunächst aus dem Gesundheitsfonds finanziert und später vom Bund erstattet.»Es ist gut, dass die Regierung die Probleme erkannt hat«, kommentiert Stellwag. »Ich fürchte aber, dass diese Maßnahmen in vielen Fällen nicht genügen«. Denn Leistungen für Privatversicherte werden bei der Berechnung der Ausgleichszahlung ebenso wenig berücksichtigt wie diejenigen, die über Berufsgenossenschaften oder Rentenversicherungen abgerechnet wurden. Für viele Praxen machen diese jedoch einen Großteil ihrer Einnahmen aus. Etliche müssten deshalb trotz der Ausgleichszahlung Kurzarbeit anmelden und Soforthilfen beantragen. Doch die »Corona-Soforthilfen«, die Kleinstunternehmen und Soloselbstständige erhalten können, seien ebenfalls unzureichend. Diese beinhalten neben einem einmaligen Zuschuss von bis zu 15.000 Euro für Betriebe mit maximal zehn Vollzeitstellen lediglich die Möglichkeit von Krediten. »Angesichts der geringen Vergütung von Leistungen ist eine spätere Rückzahlung in den meisten Fällen utopisch. Das ist kein gangbarer Weg«, ist Stellwag überzeugt.
Die Gewerkschafterin weist zudem darauf hin, dass die Praxen den Mehraufwand für Schutzmaterial größtenteils selbst stemmen müssen. Zwar können sie dafür bis Ende September pro GKV-Verordnung 1,50 Euro zusätzlich abrechnen. Jedoch umfasst eine Verordnung in der Regel sechs Therapien. »Und jedes Mal müssen Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Mit 1,50 Euro ist das angesichts der gestiegenen Preise kaum zu machen«, rechnet Stellwag vor. Um während und nach der Krise eine gute Versorgung zu sichern, müssten die Praxen und ihre Beschäftigten daher stärker unterstützt werden. »Das Modell geringer Vergütungen und niedriger Löhne hat sich spätestens jetzt überlebt. Die Therapeutinnen und Therapeuten brauchen endlich die Wertschätzung, die sie verdienen – auch finanziell.«
Daniel Behruzi
ver.di Bundesverwaltung