Behindertenhilfe

»Es läuft Grundsätzliches falsch«

Die Corona-Pandemie hat die bestehenden Probleme in der Behindertenhilfe verschärft und neue geschaffen. Interview zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung mit Sarah Bormann, die in der ver.di-Bundesverwaltung für die Behindertenhilfe zuständig ist.
02.12.2020
Sarah Bormann (links) bei der ver.di-Fachtagung Behindertenhilfe

Am 3. Dezember 2020 ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Was sind in der Behindertenhilfe die aktuellen Herausforderungen?

Inklusion, gesellschaftliche Teilhabe und ein echtes Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung sind immer noch ein Versprechen. In der Corona-Krise zeigt sich, wie fragil dieses Versprechen ist. Für viele Menschen mit Behinderung wurde der Alltag komplett auf den Kopf gestellt, sie sind hochgradig verunsichert und verstehen die Welt nicht mehr. Abgesehen davon, dass viele aufgrund chronischer Erkrankungen und Schwächungen des Immunsystems einen erhöhten Schutzbedarf haben. Als Gesellschaft müssen wir die Bedürfnisse und Interessen dieser Menschen ernst nehmen. Und wir müssen entsprechende Bedingungen schaffen, damit die Beschäftigten in der Behindertenhilfe den hohen fachlichen Anforderungen an ihre Arbeit gerecht werden können.

Die etwa eine halbe Million Beschäftigten in Wohneinrichtungen, Werkstätten, Tagesförderstätten, Kitas, Schulen und im ambulanten Bereich unterstützen Menschen mit Behinderung darin, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen – auch unter den Bedingungen der Pandemie. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr wurden viele soziale Beziehungen gekappt, weil Tagesförderstätten und Werkstätten geschlossen waren, Schulassistent*innen wurden in Kurzarbeit geschickt. Die Beziehungen zu den Menschen wieder aufzubauen und wieder den Stand vor dem Lockdown zu erreichen, hat viel Mühe gekostet. Zudem bedarf es Zeit und einer hohen Aufmerksamkeit, um Hygienemaßnahmen einzustudieren, Quarantänemaßnahmen durchzusetzen, in kleineren Gruppen zu arbeiten. Dafür fehlt es aber vielerorts an Personal. Auch ist die psychische Belastung hoch, die Angst selbst zu erkranken oder auch die Menschen anzustecken, mit denen man arbeitet.

 

Bestanden die Ursachen der Probleme nicht schon vor der Corona-Krise?

Ja. Schon vorher war die Personalsituation in vielen Bereichen angespannt. Und auch das Problem, dass aufgrund von Kettenverträgen und schlechter Bezahlung die Fluktuation der Beschäftigten hoch ist, kennen wir seit vielen Jahren aus der Schulbegleitung. Darunter leidet die Stabilität der Beziehungen zwischen den Menschen und ihren Betreuer*innen. Es läuft Grundsätzliches falsch. Man verspricht gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion, aber kostenneutral soll es bitteschön sein.

Anfang dieses Jahres wurde das Bundesteilhabegesetz (BTHG) scharf gestellt. Es soll die Inklusion von Menschen mit Behinderung befördern und gleichzeitig die Kosten eindämmen. Der sogenannte Wettbewerbsparagraph 124 im BTHG besagt, dass die Vergütung eines Leistungserbringers dann als wirtschaftlich angemessen gilt, wenn er im unteren Drittel der Vergütung vergleichbarer Leistungserbringer liegt. Die Leistungserbringer sind also angehalten, ihre Kosten ins untere Drittel zu steuern. Je erfolgreicher sie sind, desto stärker sinkt der Branchendurchschnitt und sie müssen wiederum ihre Kosten noch weiter senken. Hier wird eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Das ist der falsche Weg. Stattdessen brauchen wir eine gute Bezahlung, attraktive Arbeits- und gute Ausbildungsbedingungen, damit Fachkräfte nachkommen. Wir brauchen dringend Schuldgeldfreiheit und eine angemessene Ausbildungsvergütung für Heilerziehungspfleger*innen.

 

Welche neuen Themen stellen sich im Zuge der Pandemie?

Zum Beispiel das der persönlichen Schutzausrüstung. Die Situation ist zwar deutlich besser als noch im Frühjahr, dennoch wäre eine Ausstattung mit FFP2-Masken vielerorts sinnvoll, da Abstandsregeln oftmals nicht eingehalten werden können. Hoch aktuell ist zudem die Frage der Teststrategie. Es ist gut, dass die Behindertenhilfe bei der Testverordnung berücksichtigt wird. Dabei darf der ambulante Bereich nicht vergessen werden. Viele Menschen mit Behinderung wohnen nicht mehr in großen Wohnheimen, sondern in kleinen Wohngruppen oder in den eigenen vier Wänden, besuchen aber zum Beispiel Werkstätten. Hier wäre es viel sinnvoller, wenn in den Werkstätten, Tagesförderstätten oder zum Beispiel an Schulen getestet werden könnte. Auch müssen mobile Testeinheiten dort helfen, wo es an Ressourcen fehlt. Und selbstverständlich ist Testzeit Arbeitszeit. Dafür müssen gute Konzepte entwickelt werden. Wie im Übrigen auch bei der Impfstrategie. Wie auch in den anderen Bereichen, in denen Menschen versorgt, betreut und unterstützt werden, sollten die Beschäftigten in der Behindertenhilfe frühzeitig einen Anspruch auf Impfung erhalten.

In einigen Unternehmen und im öffentlichen Dienst werden die besonderen Leistungen während der Pandemie durch Sonderzahlungen honoriert. In der Behindertenhilfe auch?

Zwar konnte ver.di mit dem Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes auch für Beschäftigte in der Behindertenhilfe eine Corona-Prämie durchsetzen, aber der Großteil arbeitet bei freien Trägern. Mit wenigen Ausnahmen, in denen die Arbeitgeber freiwillig eine Prämie gezahlt haben, sind die Beschäftigten leer ausgegangen. ver.di hat dies von Anfang an kritisiert und auch für die Kolleginnen und Kollegen in der Behindertenhilfe eine Corona-Prämie gefordert. Allerdings ersetzt eine solche Prämie auch keine dauerhaft gute Bezahlung.

 

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Kontakt

  • Sarah Bormann

    Be­hin­der­ten­hil­fe, Teil­ha­be- und In­klu­si­ons­diens­te

    030/6956-1843

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