Die zweite Welle der Corona-Pandemie hat das Land Ende November voll erfasst. Und wieder einmal sollen die Beschäftigten der Krankenhäuser und Pflegeheime, der ambulanten Dienste, aus Behinderteneinrichtungen und Rettungsdiensten in die Bresche springen. Sie sollen über ihre Grenzen gehen, manche sogar trotz Corona-Infektion arbeiten. Das Land Niedersachsen hat erneut pauschal 12-Stunden-Schichten erlaubt. Zugleich operieren einige Krankenhäuser munter weiter, statt elektive Eingriffe zu verschieben – weil sie daran verdienen. Sie fahren auf Verschleiß. Das ist brandgefährlich – für die Beschäftigten, aber auch für den Kampf gegen die Pandemie.
Mit einer Corona-Infektion zur Arbeit? Das ist nach den Vorgaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) streng verboten. Schließlich geht es darum, Infektionsketten zu durchbrechen, um die weitere Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen. Doch ausgerechnet in Krankenhäusern und Arztpraxen werden Beschäftigte weiter eingesetzt, die mit Infizierten in Kontakt waren oder sich sogar selbst mit dem Coronavirus angesteckt haben. Dies erlaubt das RKI – allerdings nur »in absoluten Ausnahmefällen«, wenn in der betreffenden Einrichtung sonst »die adäquate Versorgung der Patientinnen und Patienten nicht mehr möglich« ist. Zudem dürfen sie ausschließlich zur Versorgung von Covid-19-Fällen herangezogen werden.
»Das ist schon ein Widerspruch: Kolleginnen und Kollegen sollen zur Arbeit kommen, dürften aber eigentlich gar nicht vor die Tür gehen, geschweige denn die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen«, sagt die Betriebsrätin eines Krankenhauses in Niedersachsen. In diesem Betrieb kam es schon mehrfach vor, dass Beschäftigte, die eigentlich in Quarantäne müssten, weitergearbeitet haben. »Das ist zwar freiwillig, aber wenn man von der Pflegedienstleitung angesprochen wird, besteht ja immer ein gewisser Druck.« In der Krisensituation der ersten Corona-Welle wollte die Interessenvertretung »nicht reingrätschen«, betont sie. Doch nun habe die Klinikleitung mehrere Monate Zeit gehabt, sich auf eine erneute Zunahme der Covid-19-Fälle vorzubereiten. »Jetzt sollten die Arbeitgeber dem Betriebsrat konkret darlegen, warum es ohne den Einsatz der Infizierten nicht geht. Ich vermute nämlich, dass oft die seit Jahren bestehende Überlastung zum Notfall deklariert wird, um die Genehmigung des Gesundheitsamts zu erhalten.«
Die Zahl der infizierten Beschäftigten in Krankenhäusern und im Rettungsdienst liegt laut RKI-Lagebericht vom 23. November bei rund 2.800 – eine Vervierfachung binnen weniger Wochen. Sie müssen keineswegs nur in Einzelfällen weiterarbeiten. Allein in Nordrhein-Westfalen wurden laut Landesgesundheitsministerium zwischen April und Oktober über 3.500 Krankenhausbeschäftigte aus der Quarantäne zurückgerufen – das in einer Phase mit vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen. Eine bundesweite Erhebung über die Gesamtzahl der Betroffenen gibt es nicht. Der Pflegewissenschaftler Michael Isfort von der Katholischen Hochschule NRW in Köln schätzt, dass etwa jedes zehnte Krankenhaus Personal einsetzt, das eigentlich in Quarantäne sein müsste. Manche müssten sich in ihrer Freizeit isolieren und dennoch zur Arbeit gehen. »Das ist eine abenteuerliche Situation«, kritisiert er in der Süddeutschen Zeitung. »Hier wird eine ganze Berufsgruppe verheizt.«
Der Wissenschaftler vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung moniert, dass niemand kontrolliere, ob die betreffenden Kliniken elektive Eingriffe verschoben und Patient*innen verlegt haben – was sie laut RKI tun müssten, bevor sie infizierte Beschäftigte weiter einsetzen. Es ist daher fraglich, ob diese Maßnahme tatsächlich nur als »Rückfallrückfalloption« genutzt wird, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kürzlich erklärte. Isfort: »Was unter Personalnot verstanden wird, ist völlig ungeklärt. Personalnot in der Pflege ist ja quasi Normalzustand.«
Das gilt auch und besonders für die Altenpflege. Diese ist von der RKI-Ausnahmeregelung zwar explizit nicht erfasst, dennoch setzt eine unbekannte Zahl an Pflegeheimbetreibern Beschäftigte mit positiven Testergebnissen ein. So bestätigte zum Beispiel ein diakonischer Träger im stark betroffenen Landkreis Offenbach in den Medien, es seien etwas zehn infizierte Pflegekräfte im Einsatz, weil sie nicht ersetzt werden könnten. In der Landeshauptstadt Wiesbaden erklärte die Leiterin des Gesundheitsamts im Hessischen Rundfunk, Einsätze von positiv Getesteten – die Schutzkleidung tragen und mit dem eigenen Auto zur Arbeit kommen müssten – seien »aus Rücksicht auf die ohnehin schon angespannte Personalsituation in den Pflegeeinrichtungen schon häufiger genehmigt« worden.
Die ver.di-Sekretärin Anette Hergl hält das für untragbar. »Der Einsatz von Infizierten ist eine Gefahr für Bewohner und Kollegen.« Selbst wenn die Betroffenen nur auf Covid-19-Stationen arbeiteten, sei es möglich, dass sich die Virenlast und der Krankheitsverlauf dadurch verstärkten. »Schon vor der Pandemie haben die Arbeitgeber permanent darauf spekuliert, dass Pflegekräfte ihre eigene Gesundheit hintanstellen. In der Pandemie wird das auf die Spitze getrieben«, kritisiert die Gewerkschafterin. Zugleich weigerten sich die politisch Verantwortlichen weiterhin, in der Kranken- und Altenpflege verbindliche, bundesweit einheitliche und bedarfsgerechte Personalstandards zu schaffen. »Die Bundesregierung muss die für Krankenhäuser und Pflegeheime vorliegenden Personalbemessungsinstrumente jetzt schnellstens auf den Weg bringen. Wer in dieser Situation nicht sieht, dass das nötig ist, dem ist nicht zu helfen.«
Längst nicht überall können die Beschäftigten frei entscheiden, ob sie trotz Infektion zur Arbeit kommen. »Eine positiv getestete Kollegin, die keine Symptome hatte, musste weiterarbeiten«, berichtet der Mitarbeitervertreter eines kirchlichen Trägers aus Rheinland-Pfalz. »Zu Hause musste sie sogar von ihrer Familie getrennt sein, aber im Haus sollte sie sich um zwei infizierte Bewohnerinnen kümmern. Ich finde das ein Unding.« Er verweist auch auf die zusätzlichen Belastungen durch die Begleitung von Angehörigen, die sich nicht mehr frei im Haus bewegen dürfen, und durch Schnelltests, die vom vorhandenen Personal mit erledigt werden müssen. Hinzu komme die psychische Belastung. In einem Heim des Trägers seien bei einem Ausbruch innerhalb weniger Tage neun Bewohner*innen an Covid-19 gestorben. »Das so hautnah mitzuerleben, nimmt einen schon mit. Gut ist, dass der Arbeitgeber einen Coach zur Verfügung gestellt hat, mit dem die Kollegen reden konnten.«
Dass Politik und Arbeitgeber auf Verschleiß fahren und die Gesundheit ihrer Beschäftigten aufs Spiel setzen, zeigt auch die von der niedersächsischen Landesregierung beschlossene Allgemeinverfügung. Seit dem 1. November können die Schichten in Krankenhäusern und Rettungsdiensten – wie schon im Frühjahr – auf zwölf Stunden verlängert werden. Pro Woche »soll« die Arbeitszeit demnach 60 Stunden nicht überschreiten. Begründet wird diese Öffnung des Arbeitszeitgesetzes unter anderem ausgerechnet damit, dass »im weiteren Verlauf des Infektionsgeschehens und der seit März 2020 bestehenden hohen Arbeitsbelastung in diesen Bereichen mit einem erhöhten Krankenstand bei den Beschäftigten zu rechnen« sei und daher – sowie wegen der Quarantänefälle – Personal fehle. Mit der Allgemeinverfügung »haben die Betriebe die nötige Flexibilität, um mit dem vorhandenen Personal kurzzeitig erhöhte Fehlzeiten auszugleichen und (…) unverzichtbare Leistungen sicherzustellen«.
David Matrai, der bei ver.di in Niedersachsen und Bremen für das Gesundheitswesen zuständig ist, hält das für »kurzsichtig und kontraproduktiv«. Die derzeitige Ausnahmesituation werde noch mindestens den Winter über anhalten, womöglich länger. »In dieser Lage die Beschäftigten vollends auszupowern, ist der falsche Weg.« Er verweist zudem auf internationale Erfahrungen. So hat der Arzt Eckhard Nagel, Präsident des Chinesisch-Deutschen Freundschaftskrankenhauses im chinesischen Wuhan, aufgezeigt, dass lange Arbeitsschichten zu Beginn der Pandemie zu höheren Sterberaten unter Patient*innen und erhöhter Ansteckungsgefahr unter den Beschäftigten führten. Als die Schichten in Wuhan auf sechs Stunden verkürzt wurden, sanken beide Raten. »Die Lehre für Deutschland und Europa ist, dass eine Sechs-Stunden-Schicht Leben rettet«, so Nagel in einem Interview.
»Die niedersächsische Landesregierung ignoriert solche Erkenntnisse und geht den entgegengesetzten Weg. Damit gefährdet sie Leben und Gesundheit von Beschäftigten und Patienten«, kritisiert Matrai. Die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen stünden dem jedoch keineswegs machtlos gegenüber. Denn die in Niedersachsen beschlossene Allgemeinverfügung setze Tarifverträge sowie Betriebs- oder Dienstvereinbarungen nicht außer Kraft. »Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen sollten ihre Möglichkeiten nutzen, um einer pauschalen Ausweitung von Arbeitszeiten einen Riegel vorzuschieben«, empfiehlt er.
Die Mitbestimmung hilft auch in anderen Fällen, in denen Arbeitgeber versuchen, die Folgen der Krise auf die Beschäftigten abzuwälzen. So kam die Leitung einer Uniklinik auf die Idee, Wartezeiten auf negative Testergebnisse vor dem Widereintritt in die Arbeit nach Krankmeldungen einseitig als Urlaub zu deklarieren. »Das ist ganz klar rechtswidrig, wir werden das verhindern«, kündigt ein Personalratsmitglied an. In einer anderen Uniklinik wollte der Arbeitgeber eine Beschäftigte nach der Rückkehr aus dem Urlaub – das Reiseziel war zwischenzeitlich zum Risikogebiet erklärt worden – trotz eines negativen Testergebnisses nicht arbeiten lassen. Die Zeit, die sie auf Veranlassung der Personalabteilung zu Hause bleiben musste, wurde ihr vom Arbeitszeitkonto abgezogen. Das Gewerkschaftsmitglied wandte sich an ver.di. Ein Schreiben, in dem die Gewerkschaft darauf hinwies, dass es »keine arbeitsrechtliche Grundlage für diese Vorgehensweise« gebe, reichte aus. Der Abzug vom Arbeitszeitkonto wurde zurückgenommen.
»Generell gilt: Die Beschäftigten im Gesundheitswesen sind auch in Zeiten der Pandemie nicht recht- und wehrlos«, betont Grit Genster, die beim ver.di-Bundesvorstand für Gesundheitspolitik zuständig ist. Arbeitgeber hätten eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Beschäftigten. »Vor allem aber sind die politisch Verantwortlichen gefordert, jetzt die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Beschäftigten brauchen das klare Signal, dass sich ihre Arbeitsbedingungen dauerhaft verbessern«, fordert die Gewerkschafterin. »Dafür muss die Bundesregierung die PPR 2.0, die Personalbemessung in der Krankenhauspflege, rasch auf den Weg bringen.« Das von ver.di, Deutscher Krankenhausgesellschaft und Deutschem Pflegerat erarbeitete Konzept liege seit Januar auf dem Tisch. Auch in anderen Bereichen müsse die amtierende Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode grundlegende Reformen anstoßen. »Wir brauchen verbindliche Personalvorgaben und eine Solidarische Pflegegarantie in der Altenpflege sowie eine bedarfsgerechte Finanzierung der Krankenhäuser statt der Fallpauschalen, die für einen Großteil der Probleme verantwortlich sind.«
Daniel Behruzi
Die vergangenen Monate waren für die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eine Zeit der Missachtung. Da veröffentlichte das Bundesfamilienministerium Videos, in denen die Pflegeberufe als Auffangbecken für alle Perspektiv- und Lustlosen dargestellt werden. Da zwangen die öffentlichen Arbeitgeber ihre Beschäftigten mit der Drohkulisse langfristiger Reallohnkürzungen in einen Arbeitskampf. Der kommerzielle Asklepios-Konzern will im niedersächsischen Seesen sogar mitten in der Pandemie Klinikbeschäftigte entlassen, weil die Profitmargen nicht hoch genug sind. Und die nach langem hin und her beschlossene Corona-Prämie kommt nur einem Bruchteil der Krankenhäuser zugute und spaltet die Belegschaften. Trotz alledem sollen wir nun wieder über unsere Grenzen gehen, um einen Zusammenbruch des fehlgesteuerten Gesundheitssystems zu verhindern. All das zeigt: Es gibt nichts geschenkt. Respekt verschaffen müssen wir uns selbst.