»Wir bleiben für euch da – und ihr bitte zu Hause!« Wie die Kolleg*innen der Essener Uniklinik, die am Donnerstag (19. März 2020) auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung abgebildet waren, appellieren allerorts Gesundheitsbeschäftigte an die Vernunft der Menschen im Land. Seit Tagen stellen sie in den sozialen Medien Fotos ihrer Teams ein und halten die Botschaft in die Kamera. Sie geben alles, um Menschenleben zu retten. Dafür erwarten sie, dass die Bevölkerung unnötige soziale Kontakte vermeidet, um die Ausbreitung von Covid-19 (»Coronavirus«) zu bremsen. Doch in Appellen und Petitionen fordern sie noch etwas anderes: dass die Schlussfolgerungen aus der aktuellen Krise gezogen werden. Das Gesundheitswesen dürfe nicht länger dem Markt überlassen werden, es brauche mehr Personal und eine bessere Bezahlung, so der Tenor der vielen Aufrufe, die im Internet auf enorme Resonanz stoßen.
»Aus dieser Pandemie-Krise müssen grundlegende Konsequenzen gezogen werden: Schluss mit `Der Markt regelt das schon´ – ein für alle Mal«, heißt es in einem Aufruf der Berliner Kinderkrankenpflegerin Ulla Hedemann, den in den ersten drei Tagen 107.650 Menschen unterzeichneten (Stand 20. März 2020). Hedemann, die in der ver.di-Betriebsgruppe am Uniklinikum Charité aktiv ist und schon mehrfach für mehr Personal und Entlastung gestreikt hat, kritisiert grundlegende Fehlentwicklungen: »Kostendruck und Profitorientierung haben dazu geführt, dass immer mehr Patient*innen in immer kürzerer Zeit mit weniger Personal versorgt werden mussten. Jetzt in der Covid-19-Krise rächt sich diese Politik besonders.« Sie und ihre Mitstreiter*innen fordern unter anderem, dass sofort mehr Personal und ausreichend Schutzkleidung in die Gesundheitseinrichtungen kommt, die Beschäftigten in die Krisenstäbe der Kliniken einbezogen werden und alle laufenden oder geplanten Krankenhausschließungen gestoppt werden. Zum Abschluss appellieren sie: » Lasst uns jetzt zusammen durch die Krise gehen und danach ein besseres Gesundheitssystem aufbauen!«
Zugleich hat die ver.di-Betriebsgruppe an der Charité den politisch Verantwortlichen in Berlin eine »Streitschrift« übersandt, in der die Ökonomisierung des Gesundheitswesens kritisiert wird: »Unsere Gewerkschaft ver.di hat immer gesagt, dass ein Krankenhaus kein Wirtschaftsunternehmen à la Schraubenfabrik ist und dass bei der Gesamtrechnung ALLES berücksichtigt werden muss – Katastrophenschutz, Hygiene, Mitarbeiter, Investitionen, etc.«, heißt es in dem Text, der auch auf die wichtige Rolle der Servicekräfte hinweist. An der Charité sind diese in das Tochterunternehmen CFM ausgegliedert und kämpfen seit langem für einen Tarifvertrag. Für die CFM-Beschäftigten, die ihren Streik wegen der Corona-Krise ausgesetzt haben, brauche es »jetzt rasch einen Tarifabschluss, der eine klare Anerkennung ihrer Leistungen und ihres Werts für die Gesundheitsversorgung ausdrückt«.
Neben weiteren Unterschriftenaktion, mit denen Pflegekräfte ihrem Unmut über die verfehlte Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre Luft machen, erhält Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dieser Tage auch sonst einige Protestpost. So kritisiert zum Beispiel der Betriebsrat des kommunalen Klinikunternehmens Vivantes in Berlin in einem Offenen Brief Spahns Beschluss, die Pflegepersonaluntergrenzen auszusetzen. »Die Untergrenzen sind schon nur die unterste Haltelinie, die durch die Politik festgelegt wurde, um die Gesundheit von Patient*innen und Mitarbeiter*innen zu schützen. Diese Grenzen in einer Situation auszusetzen, in der es umso wichtiger ist, ausreichend Personal für die Versorgung von kranken Patient*innen vorzuhalten, können wir nicht nachvollziehen«, schreiben die Betriebsräte. Stattdessen seien zusätzliche Pflegekräfte nötig, um Hygienevorschriften einhalten zu können und weitere Neuinfektionen zu vermeiden.
Auch in vielen weiteren Kliniken haben Beschäftigte Initiativen gestartet, um sich Gehör zu verschaffen. So warnen Dutzende, in ver.di organisierte Beschäftigte der öffentlichen Krankenhäuser Berlins in einem Offenen Brief an den Senat, die Entwicklungen der kommenden Wochen und Monate könnten »eine ungeahnte Dynamik aufweisen«. Sie seien in dieser Situation bereit, über ihre Grenzen hinaus zu gehen – wieder einmal. »Aber wir fordern auch! Wir fordern jetzt, was notwendig ist, um diese Krise zu bewältigen und wir werden nach der Krise fordern, was notwendig ist, um eine gute Patientenversorgung und bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem sicherzustellen.« Konkret verlangen die Unterzeichner*innen unter anderem ausreichend Schutzkleidung, schnell mehr Personal in allen Bereichen, eine feste Zuordnung von Reinigungskräften auf den Stationen und eine engmaschige Testung aller Beschäftigten, die das selbst für erforderlich halten. »Beschäftigte aus Risikogruppen, wie chronisch Kranke und ältere Beschäftigte müssen geschützt werden und sollten nicht in die direkte Versorgung von infizierten bzw. potenziell infizierten Patient*innen eingesetzt werden«, heißt es in dem Appell. Die Betroffenen dürften dadurch keine Nachteile haben. Auch weiterreichende Forderungen wie die Abschaffung der Fallpauschalen und eine kostendeckende Finanzierung finden sich in dem Offenen Brief.
Am Uniklinikum Augsburg läuft eine Unterschriftensammlung, mit der unter anderem die gleichberechtige Einbeziehung der Beschäftigtengruppen in den örtlichen Krisenstab gefordert wird. Es sollen Delegierte aus der Belegschaft heraus bestimmt und über den Personalrat entsandt werden. Zudem fordern die Unterzeichner*innen eine »sofortige Gefahrenzulage von 300 Euro monatlich für alle Beschäftigten«. Dass damit alle Berufsgruppen gemeint sind, wird bereits in der folgenden Zeile klar: »Wir, das sind: Ärzt*innen, Pflege, Reinigung, Wäsche, IPT, Therapeut*innen, Azubis, Labor, Küche, Versorgungsassistent*innen und alle weiteren Berufsgruppen« am Augsburger Uniklinikum. Ihre Kolleginnen und Kollegen am Universitätsklinikum des Saarlandes appellieren in einer ähnlichen Petition an ihre Landesregierung, für »die sofortige Absage aller nicht notwendigen Eingriffe«, die »Bereitstellung von ausreichend Schutzausrüstung (insbesondere FFP2 und FFP3)« zu sorgen. Zudem fordern die Beschäftigten der Homburger Uniklinik eine sofortige Gefahrenzulage von 50 Euro pro Schicht für alle Beschäftigten«.
Nicht im Internet, sondern im Betrieb läuft eine von den Teamdelegierten der Universitätsklinik Jena in der vergangenen Woche gestartete Petition. Darin stellen die Beschäftigten – die erst kürzlich einen Entlastungs-Tarifvertrag erstritten haben – klar, dass sie bereit sind, »für die Dauer der Pandemie unsere Ressourcen dem Universitätsklinikum auch außerhalb unseres angestammten Arbeitsbereiches zur Verfügung zu stellen sowie bei Bedarf auch über unsere vertraglich geregelte Arbeitszeit hinaus zu arbeiten«. In der aktuellen Situation seien Zusammenhalt, Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller Bereiche und Beschäftigtengruppen von zentraler Bedeutung. Zugleich fordern die Kolleg*innen der Thüringer Uniklinik, dass ihre Vertreter*innen in den örtlichen Krisenstab einbezogen werden und dass es »sofort für alle, die dieser Situation standhalten, die ihre Kinder in Notbetreuungsgruppen bringen, Überstunden machen, Pausenzeiten nicht nehmen können und Ruhezeiten nicht einhalten können, eine verlässliche Zusage über eine staatlich finanzierte Gefahren- und Belastungszulage gibt«. Auch in Jena wird argumentiert, dass die aktuellen Probleme auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre zurückzuführen seien. Nach der Krise müssten daher die Marktlogik im Gesundheitswesen, die Privatisierung von Krankenhäusern und die »Just-in-time-Lieferketten« für Verbrauchsmaterialien hinterfragt werden.
In der Gesellschaft dürfte gerade jetzt eine große Offenheit gegenüber solchen Forderungen bestehen, denn vielen Menschen ist klar, dass die Beschäftigten in Kliniken und Pflegeeinrichtungen (wieder einmal) den Kopf hinhalten. So kursieren in etlichen Städten Aufrufe, die Pflegekräfte wahrnehmbar zu unterstützen. In einem Appell werden die Menschen aufgerufen, wie in Spanien und Italien um 21 Uhr »mit Applaus und Lärm am offenen Fenster und auf den Balkonen ihre Solidarität mit den Beschäftigten und Patient*innen im Gesundheitswesen« zu zeigen.
ver.di Bundesverwaltung