Hunderttausende pflegebedürftige Menschen in Deutschland werden von ausländischen Beschäftigten im sogenannten Live-in-Modell betreut. Jetzt wollen oder können etliche von ihnen wegen der Corona-Pandemie nicht mehr ins Land. Welche Folgen hat das?
Für viele pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen ist das ein Riesen-Problem. Zehntausende stehen plötzlich ohne Versorgung da, weil die »Ablösung« nicht kommt. In der Regel bleiben die Kolleginnen maximal drei Monate, dann kommen neue – auch, weil diese Situation, in einem fremden Haushalt zu leben und rund um die Uhr zur Verfügung stehen zu müssen, länger kaum aushaltbar ist. Doch jetzt werden sie zum Teil nicht durch andere Kolleginnen abgelöst, weil diese wegen der Corona-Pandemie nicht ins Land kommen können oder weil sie die Fahrt inklusive zweiwöchiger Quarantäne nach ihrer Rückkehr nicht auf sich nehmen wollen. Die Beschäftigten haben zudem Angst, sich selbst oder ihre Patient*innen mit dem Virus anzustecken – auch, weil es sehr oft an der nötigen Schutzausrüstung fehlt. Es wird nun sichtbar, wie prekär und gefährlich dieses Modell ist. Und das war es auch vorher schon.
Gefährlich für wen?
Sowohl für die pflegebedürftigen Menschen als auch für die Beschäftigten. Die allermeisten von ihnen sind keine ausgebildeten Pflegekräfte. Zum einen ist daher die Qualität der Versorgung nicht gesichert. Zum anderen basiert dieses Modell auf systematischem Gesetzesbruch. Denn dass eine Beschäftigte Pflege und Betreuung rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche sicherstellen soll, ist überhaupt nicht möglich, ohne dass zum Beispiel gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen wird. Das Mindestlohngesetz wird ebenfalls nicht eingehalten. Dass es auch für die Live-in-Kräfte gilt, hat kürzlich das Berliner Arbeitsgericht bestätigt. Eine bulgarische Kollegin hatte mit Unterstützung von ver.di erfolgreich auf Lohnnachzahlung geklagt.
Wie viele dieser Beschäftigten arbeiten eigentlich in Deutschland?
Das weiß das niemand so genau. Schätzungen gehen von bis zu einer halbe Million Frauen aus, die vor allem aus Osteuropa kommen und in deutschen Privathaushalten arbeiten. Ein Teil wird über Agenturen vermittelt, die den Menschen eine »24-Stunden-Pflege« versprechen und mit Partneragenturen in den Herkunftsländern zusammenarbeiten. Andere Beschäftigte sind Soloselbständige oder haben kein dokumentiertes Arbeitsverhältnis. Von den politisch Verantwortlichen wird diese Schattenwirtschaft geduldet.
Warum?
Weil auf diese Weise die Lücken des Versorgungssystems übertüncht werden. Die Pflegeversicherung deckt die pflegebedingten Kosten nicht vollständig ab, weshalb in der stationären Langzeitpflege hohe Eigenanteile fällig werden. Im Januar 2020 mussten pflegebedürftige Menschen bzw. ihre Angehörigen durchschnittlich 756 Euro pro Monat bezahlen, inklusive Unterbringung, Verpflegung und Investitionen waren es 1.940 Euro. Auch im ambulanten Bereich decken die Leistungen der Pflegeversicherung häufig die tatsächlichen Bedarfe insbesondere bei der Betreuung der pflegebedürftigen Person nicht ausreichend ab. Vor diesem Hintergrund weichen viele auf Live-in-Kräfte aus, zumal damit eine 24-stündige Erreichbarkeit geschaffen werden soll, die ein ambulanter Pflegedienst nicht leisten kann. Noch befördert wird dies durch das Pflegegeld, das eigentlich nur eine Aufwandsentschädigung für die ehrenamtliche Pflege von Angehörigen ist, aber für die Bezahlung externer ausländischer Betreuungskräfte verwendet wird. Wie problematisch das ist, sieht man spätestens jetzt.
Was sollten pflegebedürftige Menschen tun, die aufgrund der aktuellen Situation nicht mehr betreut werden?
Sie sollten ihrer Pflegekasse anzeigen, dass die Versorgung nicht mehr sichergestellt ist. Man sollte schnellstmöglich mit dem unabhängigen Pflegestützpunkt vor Ort in Verbindung treten und besprechen, wie ein neues Versorgungssetting aussehen kann, über einen ambulanten Pflegedienst oder im Pflegeheim. Für einige pflegebedürftige Menschen ergibt sich sicherlich auch die Notwendigkeit, vorübergehend Lösungen im privaten Umfeld zu suchen – was aktuell ja auch vielfach in der Kinderbetreuung nötig ist.
Was muss sich grundsätzlich ändern?
Es kann nicht sein, dass die Pflege in einem reichen Land wie Deutschland auf der massenhaften Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte basiert, zumal die Frauen in der Versorgung ihrer eigenen Familien in ihren Heimatländern gebraucht werden. Zentrale Ursache ist die systematische Unterfinanzierung der Pflegeversicherung. Sie muss zu einer bedarfsdeckenden Vollversicherung weiterentwickelt werden, die alle Pflegerisiken abdeckt und deren finanzielle Basis durch die Einbeziehung aller Einkommensarten erweitert wird. Deshalb setzt ver.di sich für eine solidarische Pflegegarantie ein.
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ver.di Bundesverwaltung