COVID-19

Und wieder Extraschichten

27.03.2020

CORONA — In der Krise rächt sich die marktorientierte Gesundheitspolitik

ein Kommentar von Marion Lühring

Leere Regale in den Supermärkten, geschlossene Schulen, abgesagte Messen, sinkende Börsenkurse, Kurzarbeit und Entlassungen: Die schlechten Nachrichten häufen sich. Die Bundesregierung schnürt eilig ein Hilfspaket für milliardenschwere Investitionen in der Wirtschaft. Auf Kliniken und Krankenhäuser rollt dennoch ein Tsunami zu, wie ein betroffener Arzt im Katastrophengebiet Italien die Flut der Schwerstfälle der am Corona-Virus Erkrankten schon Anfang März beschrieb. Ein schnelles Ende der Ansteckungswelle ist nicht in Sicht. Und in der Krise muss sich nun auch unser Gesundheitssystem beweisen. Die Frage ist nur, ob es das kann: Seit Jahren wird bei den Ausgaben gespart, werden Medikamente und medizinisches Material kostengünstig im Ausland produziert und verknappen sich bei Produktionsproblemen. In den Kliniken fehlt es an Personal, ganze Abteilungen werden ausgelagert, um Kosten zu reduzieren. Ökonomische Interessen haben schon lange die Vernunft verdrängt. Und das könnte sich nun rächen.

 
Marion Lühring ist Redakteurin der "ver.di publik"

Nicht nur Apotheken können keine Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel mehr liefern, auch immer mehr Kliniken stellen fest, im Keller liegen keine Reserven. Bei zahlreichen Medikamenten, die in Deutschland verkauft werden, gibt es ebenfalls Engpässe, und das auch schon länger. Ob Blutdrucksenker, Schmerzmittel oder Schilddrüsenhormone, die Gelbe Liste 2019 ist lang. Im Februar hat der Bundestag eine Änderung im Arzneimittelgesetz beschlossen: Pharmafirmen können nun von Behörden verpflichtet werden, Medikamente auf Vorrat zu halten, um Lieferengpässe zu vermeiden. Aber das sollten sie dann auch tun, und zwar schnell. Aber nicht nur der Mangel an Material- und Medikamentennachschub bereitet Sorgen. Auch die Personaldecke ist seit Jahren ausgedünnt. Menschen in Kranken- und Pflegeberufen arbeiten noch immer viel zu oft am Limit. Inzwischen fangen die Kliniken sogar an, sich gegenseitig die Fachkräfte abzujagen. Da hilft es jetzt auch nicht, dass die Bundesregierung ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet hat, das von der Öffentlichkeit kaum beachtet am 1. März in Kraft getreten ist, und mit dem zügig Pflegekräfte aus dem außereuropäischen Ausland gewonnen werden sollen. Gute Arbeitsbedingungen und Löhne wären der bessere Weg hin zu mehr Personal.

 

Das Virus trifft auf Kliniken in Not, auf überlastete Ärzte und Pflegekräfte und auf krank machende Arbeitsbedingungen

Mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 spitzt sich die Lage zu: Das Virus trifft auf Kliniken in Not, auf überlastete Ärzte und Pflegekräfte und auf krank machende Arbeitsbedingungen. Es trifft auf Menschen, die aus Leidenschaft helfen, manche bis zum Burnout. Dabei brauchen sie jetzt dringend selbst Entlastung. Die Politik könnte die Arbeitsbedingungen in den Kliniken verbessern. Doch das macht sie nicht. Fallpauschalen bestimmen, was eine Krankheit kosten darf, niedrige Kosten sind wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung. ver.di kämpft schon seit geraumer Zeit für mehr Personal und Entlastung in den Krankenhäusern. Dabei ging und geht es auch darum, per Gesetz durchzusetzen, wie viele Menschen wie viele Patient*innen pflegen. Dafür haben ver.di, der Deutsche Pflegerat und die Deutsche Krankenhausgesellschaft erst kürzlich Standards auf Grundlage der Pflegepersonalregelung festgelegt. Als weiteren Schritt haben 16 Großkliniken nach Arbeitskämpfen Vereinbarungen für mehr Personal und Entlastung unterschrieben. Das Klinikpersonal konnte und wollte die viel zu dünne Personaldecke nicht länger ertragen. Doch nun kommen erneut Extraschichten auf die Beschäftigten zu, weil das Virus nicht darauf gewartet hat, bis die Politik endlich handelt. Sie sind Held*innen, wenn sie das aushalten.

Politik und Gesellschaft müssen ihre Nöte endlich ernst nehmen. Jetzt, und auch wenn das Virus wieder verschwindet. Ärzt*innen und Pflegekräfte helfen Menschen in Not. Sie kämpfen um die Leben der Infizierten, aber auch tagtäglich um viele andere Patient*innen, die ebenfalls schwer erkrankt sind. Wo wegen Corona die Untergrenzen für das Personal aufgehoben werden, ist die Grundversorgung nicht mehr gesichert. Das Aufschieben von Operationen, die noch eine Weile warten können, verschafft vielleicht kurzfristig eine Atempause, ist aber keine Dauerlösung. Allen muss jetzt klar sein, wenn Patient*innen nicht mehr richtig versorgt werden können, weil zu wenig Personal da ist, dann liegt die Schuld nicht beim Krankenhauspersonal. Die Verantwortung hat allein die Politik, die das Gesundheitssystem dem Markt zum Fraß vorgeworfen hat und seit zwei Jahrzehnten ausbluten lässt.

 

 


 

 

Fluch(t) aus der Klinik

So lange es im Gesundheitswesen um Gewinne geht und nicht um Menschen, so lange bleiben die Arbeitsbedingungen schlecht. Immer öfter kündigen deshalb Ärzte und Pflegekräfte

von Marion Lühring

 
Leere Gänge in der Haunerschen Kinderklinik in München. Im Bild eine Station, die wegen Personalmangels trotz hoher Nachfrage nicht genutzt wird

 

Ärzteabwanderung, Leiharbeit, Flucht in Teilzeit – die Personalnot in Deutschlands Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wächst. Doch anstatt die Probleme zu lösen und bessere Arbeitsbedingungen zu bieten, jagen sich die Kliniken gegenseitig das Personal ab. Damit verschärfen sie den Notstand und die Belastungen für diejenigen Kräfte, die bleiben. Gleichzeitig sind Patientinnen und Patienten immer schlechter versorgt, denn in den Kliniken fehlt es an Personal, immer öfter lassen sich ganze Abteilungen abwerben.

Personal auf dem Sprung

Beim kommunalen Berliner Krankenhauskonzern Vivantes ist das jüngst im Februar so geschehen. Fast 40 Fachkräfte, der Großteil von der Infektiologie, ließen sich abwerben. Sie hatten zuvor gegen schlechte Arbeitsbedingungen protestiert. Laut Medienberichten kündigte zuerst der bisherige Chefarzt und HIV-Experte des städtischen Auguste-Viktoria- Krankenhauses im Bezirk Tempelhof seinen Weggang an. Danach folgte die Massenkündigung des Teams. Mindestens 11 Ärzte und 27 Pflegekräfte wechseln nun zum katholischen St. Joseph im gleichen Bezirk und wollen dort eine neue Infektiologie aufbauen. "Die Kündigungen kamen nicht ganz überraschend. Strukturelle Unterbesetzung, mangelnde Wertschätzung und häufige Personalwechsel belasten das Personal", sagt Janine Balder, bei ver.di Berlin-Brandenburg für Vivantes zuständig. Der Krankenhauskonzern kündigte an, die Stellen wieder zu besetzen. Doch Fachkräfte sind rar. "Es wird nicht leicht, neue Leute zu finden, wenn die Arbeitsbedingungen insgesamt nicht besser werden", sagt Balder.

 

"Die Kündigungen kamen nicht ganz überraschend. Strukturelle Unterbesetzung, mangelnde Wertschätzung und häufige Personalwechsel belasten das Personal."

Janine Balder, ver.di Berlin-Brandenburg

Auch beim Klinikbetreiber Asklepios ist das Personal unzufrieden. In den Häusern, in denen nicht auf dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) bezahlt wird, wächst der Widerstand. Die Beschäftigten fordern mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, festgeschrieben und gesichert in einem Tarifvertrag. Dafür streiken sie derzeit immer wieder an verschiedenen Standorten. "Unser Ziel bleibt die Angleichung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen an den branchenüblichen Tarifvertrag. Nur so können wir dringend benötigtes Personal gewinnen", sagt Krankenpflegerin Sandra Grundmann, die in den Schildautalkliniken in Seesen arbeitet.

Der Klinikbetreiber hat schon jetzt massiv Probleme, neue Leute zu finden. "Das Konzernmanagement gefährdet mit seinem Sparkurs die Zukunft der Schildautalkliniken", sagt Physiotherapeut Gabor Wuttke. Die Beschäftigten befürchten, dass Personal zur Konkurrenz abwandert. Und das ist es auch schon. Das ehemalige Kreiskrankenhaus der Asklepios-Klinik in Goslar liegt nur eine Autostunde entfernt und zahlt nach dem TVöD. "Personal halten und gewinnen geht nur mit guten Arbeitsbedingungen", sagt Martin Kupferschmidt von der ver.di-Streikleitung.

 

"Personal halten und gewinnen geht nur mit guten Arbeitsbedingungen."

Martin Kupferschmidt, ver.di-Streikleitung Asklepios

2019 ist auch schon das Personal einer Kinderklinik von Asklepios in Sankt Augustin bei Bonn abgewandert. Nachdem zwei Herzspezialisten sich beim nahe gelegenen und besser zahlenden Uniklinikum in Bonn unter Vertrag nehmen ließen, folgten weitere Pflegekräfte und Ärzte. Auch das Asklepios-Pflegeheim Weserblick in Höxter musste seine Pforten schließen, weil es dem Haus seit langem an qualifizierten Fachkräften in der Pflege mangelte. Akute Lücken waren immer wieder durch den Einsatz von teureren Leiharbeiter*innen geschlossen worden. Und auch bei der Berliner Charité gibt es Personalprobleme. Auf einer Kinderkrebsstation sollen 50 Stellen unbesetzt sein, für die Intensivstationen werden ebenfalls händeringend Pflegefachkräfte gesucht.

Laut Bundesagentur für Arbeit blieben im Jahr 2018 gemeldete Stellenangebote für examinierte Altenpflegefachkräfte und -⁠spezialisten im Schnitt 183 Tage vakant, bei Gesundheits- und Krankenpflegefachkräften 154 Tage. Und eine Verbesserung ist nicht in Sicht.

Bis zu 8.000 Euro Prämie
Um Personal zu gewinnen, zahlen Kliniken immer öfter Prämien. Laut Informationen, die ver.di vorliegen, erhalten Beschäftigte des Klinikums in Saarbrücken 1.250 Euro, wenn sie eine neue Pflegekraft anwerben. Die Summe gibt es noch einmal, wenn die neue Kraft nach der Probezeit noch da ist. Die Schön-Klinik in Düsseldorf lockt mit 4.000 Euro. Die München Klinik gGmbH zahlt Werber*innen sowie Neueingestellten nach einem Jahr sogar insgesamt 8.000 Euro. Und im Klinikum Stuttgart bekommen Alt- und Neubeschäftigte in bestimmten Bereichen monatlich mehr Geld, wenn sie bleiben. Dort verdienen Hebammen und Intensivpflegekräfte beispielsweise zwischen 300 und 400 Euro zusätzlich.

"Dass die Leute mehr Geld bekommen, konnten wir als Personalrat nicht ablehnen", sagt Krankenpfleger und Personalrat Volker Mörbe. Aber man sehe das durchaus kritisch. Denn auch die Kolleginnen in anderen Bereichen seien überlastet, doch sie gehen leer aus. Zudem sei es Aufgabe der Gewerkschaft, die Bezahlung auszuhandeln, so Mörbe, der auch Sprecher der ver.di-Vertrauensleute am Klinikum Stuttgart ist. "Die Beschäftigten brauchen Verlässlichkeit – die gibt es nur mit Tarifvertrag."

Wenn Prämien und Sonderzahlungen nicht mehr ausreichen, um Personal zu binden, dann greifen Arbeitgeber immer öfter auf Leiharbeitskräfte zurück. Deren Zahl hat sich in der Krankenhauspflege auf rund 22.000 nahezu verdoppelt. In der Altenpflege stieg sie laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit um ein Drittel auf etwa 12.000.

 

"Die Beschäftigten brauchen Verlässlichkeit – die gibt es nur mit Tarifvertrag.

Volker Mörbe, Sprecher der ver.di-Vertrauensleute am Klinikum Stuttgart

Das ist auch kein Wunder, denn der Wechsel zu einer Leiharbeitsfirma ist für viele Beschäftigte eine Möglichkeit, bessere Arbeitsbedingungen zu bekommen, vor allem überdurchschnittliche Löhne oder einen verlässlichen Dienstplan, bei dem sie mitentscheiden können. Leasingkräfte können sich ihre Arbeitszeiten meist aussuchen, während Stammbeschäftigte die schlechteren Dienste akzeptieren müssen. Am Uniklinikum Düsseldorf hat der Personalrat deshalb Rahmenbedingungen vereinbart, die verhindern sollen, dass Stammkräfte gegenüber Leihbeschäftigten benachteiligt werden.

Dennoch: Viele Belegschaften teilt inzwischen ein Keil. Stammkräfte sind im Nachteil und fühlen sich ausgenutzt. Leiharbeitskräfte fühlen sich unverstanden. "Natürlich verstehe ich den Unmut des Stammpersonals – ich selbst kenne beide Perspektiven", sagt die Leasing-Pflegekraft Maria Krüger. "Und ich glaube, wir sind uns alle einig: Es muss etwas passieren in der Pflege. Die Situation auf den Stationen, im speziellen auf den Intensivstationen, ist teilweise katastrophal. Das Stammpersonal ist teilweise stark ausgebrannt, überarbeitet, frustriert. Dauerhaft sind viele Stationen personell unterbesetzt. Ich kann verstehen, dass dann das Thema Leasing zusätzlich frustriert." Es mache sie "unfassbar traurig", dass die Pflegekräfte nicht zusammenhalten. "Ich würde mir wünschen, dass die Pflegekräfte sich nicht mehr untereinander bekämpfen, sondern dass wir alle gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, für bessere Bezahlung, für bessere Zustände in der ambulanten und stationären Pflege."

Nichts wie raus

Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit betrug das mittlere Bruttogehalt im Jahr 2017 für vollzeitbeschäftigte Fachkräfte in der Krankenpflege 3.314 Euro und in der Altenpflege 2.746 Euro. Ein*e Pflegehelfer*in erhielt dagegen in der Altenpflege nur 1.944 Euro und in der Krankenpflege nur 2.494 Euro. Während Ärzte im Vergleich wesentlich mehr verdienen und bei einem Wechsel auch eher bessere Bedingungen aushandeln können, bleibt den Pflegekräften oft nur die Flucht in Teilzeitarbeit, wenn die Arbeitsbedingungen unerträglich werden. Dann aber bleibt nur ein Hungerlohn übrig und später nicht genug für die Rente.

Trotzdem greifen viele zu dem Ausweg Teilzeit, um die eigene Gesundheit zu schützen. Manche geben den Beruf ganz auf. Jede zweite Pflegekraft wechselt in Teilzeit oder geringfügige Beschäftigung (57 Prozent). Da aber mehr Frauen als Männer in der Alten- und Krankenpflege arbeiten, laut Bundesagentur für Arbeit vier von fünf Erwerbstätigen, sind Frauen auch häufiger in Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung anzutreffen (62 Prozent Frauen, 36 Prozent Männer).

Ungünstige Arbeitszeiten, hohe Verantwortung, viel Druck und wenig Lohn, das sind keine Bedingungen, um Menschen für den Beruf zu begeistern. Die Pflegebranche wirbt deshalb zur Abmilderung des Fachkräftemangels zunehmend Pflegekräfte aus dem außereuropäischen Ausland an. Doch werden die Personallöcher nur notdürftig gestopft, anstatt endlich bessere Arbeitsbedingungen und Löhne zu bieten.

Für wirklich gute Arbeitsplätze findet sich immer Personal. Wer dagegen billig aus dem Ausland anwirbt, zeigt sein wahres Gesicht: Es geht allein um Profit. Und so lange es im Gesundheitswesen um Gewinne geht und nicht um Menschen, so lange bleiben die Arbeitsbedingungen schlecht und wird die Flucht aus den Kliniken und aus den Pflegeheimen nicht enden.

 

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