von Monika Goetsch
Seit einiger Zeit geht Markus Oppel viel an die frische Luft und spaziert den Main entlang, das hat er sich so angewöhnt. Manchmal angelt er auch, er liebt das: allein am Wasser zu sitzen. Es macht was mit der Psyche. "Man muss sich selbst schützen, dazu gehört es, rauszugehen und zu laufen", sagt der 37-Jährige. Für die Linie, die nicht schlank genug ist, wie er findet, was vom Stress kommt. Und für die Seele.
Der Krankenpfleger war lange fest angestellt, inzwischen hat er sich als Pflegeberater in der Nähe von Würzburg selbstständig gemacht. Zu seinem Job gehört es auch, anderen zu erklären, worauf es ankommt, wenn man sich als pflegende*r Angehörige*r Tag und Nacht um den Ehemann kümmert oder um die Ehefrau, um Vater, Mutter oder Kind. Nämlich auf die eigene Gesundheit. Nichts, was einem zuallererst einfällt, wenn man sich Tag und Nacht aufreibt, für andere. "Achtsamkeit und Selbstfürsorge – da muss man sich ranpirschen", sagt Oppel. Denn es hilft ja nichts: Wer pflegt, muss fit sein, seelisch wie körperlich.
"Nur wenn es den Pflegenden gut geht, geht es auch den Pflegebedürftigen gut", so auch das Motto des Vereins "Pflegende Angehörige e.V.", dem Oppel seit der Gründung 2017 angehört. Der Verein mit Sitz in Amberg, der ein Herz mit Träne im Logo hat, ist einer noch heute sehr aktiven Facebook-Gruppe entsprungen und will all jenen, die sich zu Hause um Partner, Eltern oder Kinder kümmern, Austausch und Information ermöglichen. Und das ist bitter nötig. Fast 3,9 Millionen Pflegebedürftige wurden im Jahr 2018 gezählt, Tendenz: steigend. Über drei Viertel von ihnen werden von den Angehörigen versorgt. Manche mit Unterstützung von Pflegediensten, viele jedoch ohne, völlig allein, Tag und Nacht, oft über Jahre.
Markus Oppel kennt die Situation pflegender Angehöriger aus eigener Erfahrung. Seine zwei Kinder und der Vater, der im selben Haus wohnt, haben Pflegegrad zwei. Eine seltene Lungenerkrankung bei einem Kind, Asthma, Ängste und Zwänge beim anderen, eine vor langer Zeit aus dem Ruder geratene Zeckeninfektion beim alternden Vater: Oppel und seine Frau haben keine einfachen Jahre hinter sich. Obwohl sie beide ausgebildete Krankenpflegekräfte sind. Oder vielleicht gerade deswegen. Für sie steht außer Frage, dass sie sich selbst um ihre Angehörigen kümmern. Rund um die Uhr und in allem, was anfällt.
Das war schon bisher schwierig genug. Aber jetzt war und ist da auch noch Corona und die beständige Sorge, die Krankheit weiterzureichen an die Kinder oder den Vater, die damit noch schlechter zurechtkämen. Bedrohlich auch die Vorstellung, selbst auszufallen.
Die Angst, krank zu werden und nicht zu wissen, wer sich dann kümmert: Viele pflegende Angehörige kennen das. Wo Hilfe holen? Wie das System am Laufen halten? Schon im Februar hat Oppel all seine Außentermine gekappt und die Arbeit auf online umgestellt, zur Sicherheit. Im Sommer ging es ein bisschen leichter. Die Familie war sogar an der Ostsee, auftanken. Aber jetzt ist der Herbst da, der Winter steht bevor und beide wecken Erinnerungen an den Frühling, der für pflegende Angehörige kaum schlimmer hätte verlaufen können. "Das war grausam", sagt Oppel. Damit spricht er nicht nur für sich selbst, sondern auch für all die Ehefrauen, Ehemänner, die Mütter und Väter und Töchter und Söhne, die sich in Deutschland um pflegebedürftige Menschen kümmern.
Auf einen Schlag fiel die Tagespflege weg, in der die Patienten wenigstens ein paar Stunden versorgt werden können. Die 24-Stunden-Kräfte aus osteuropäischen Ländern reisten gar nicht erst an. Die Kurzzeitpflege, in der Hochzeit der Krise fast auf Null gestellt, wurde zwar wieder hochgefahren, die Zahl der Plätze allerdings reduziert. Viele pflegende Angehörige mussten darum auch auf die eigene Reha verzichten. "Das hat die Leute schwer getroffen: Dass ihre Auszeit plötzlich wegfällt." Pflegende, deren Unterstützernetz bislang einigermaßen funktioniert hatte, waren völlig auf sich gestellt. Und das ist riskant.
Denn wer Angehörige pflegt, droht auszubrennen. Die Sorge um die Gesundheit des Patienten. Stürze in der Nacht. Nasse Bettwäsche, wundgelegene Stellen, Wutausbrüche. Dazu der Wecker, der alle paar Stunden klingelt, weil ein Medikament geschluckt oder der Patient gedreht werden muss. All die Hilfeleistungen beim Waschen, Anziehen und Essen, beim Schleimabsaugen und Inhalieren, das Wechseln der Einlagen, das Leeren von Urinbeuteln, die Umständlichkeit der Arztbesuche. Außerdem die Geldsorgen und die allfällige Bürokratie. Hinzu kommen die bedrückenden, krankheitsbedingten Veränderungen, fast immer zum Schlechteren hin. Immerzu: Alles anders. Alles neu. Täglich die bange Frage, ob der Vater verletzt am Boden liegen wird, wenn man ihn morgens vor der Arbeit besucht.
Immerhin: Reden entlastet. Auf der Facebookseite des Vereins finden Pflegende Kontakte und Zuspruch. Sie vernetzen sich mit anderen, die ähnliche Erfahrungen machen, und fühlen sich weniger allein. So können sie sich, zum Beispiel, darüber austauschen, wie am Anfang, bei Pflegestufe eins, noch alles gut geht. Wie es dann bei Stufe zwei oder drei zu kippen beginnt, die Belastung größer und größer wird. Alles fast unerträglich ist bei Stufe vier. Und wie bei fünf die Pflege wieder ein wenig einfacher wird, einerseits. Denn die stabile Bettlägerigkeit ist, wie Oppel aus seiner Erfahrung als Krankenpfleger weiß, "der zugleich schlimmste und beste Fall für die Pflegenden". Alles scheint beherrschbarer, in dieser Zeit.
Aber dann, irgendwann, ist der Mensch, den man monate-, jahrelang gepflegt hat, einfach weg. "Man fällt in ein Loch und steht allein da." Mit dem Tod des Partners geht häufig der eigene Lebensinhalt verloren. Etwas Neues finden, das einen ausfüllt: Auch das ist eine große Herausforderung. Zumal man oft über Jahre kaum noch unter Leute kam. "Gerade wenn sich pflegende Angehörige um Patienten höherer Pflegegrade kümmern, sind sie zu Hause eingesperrt", sagt Oppel.
Und doch: Die Situation lässt sich lindern. Allerdings nehmen pflegende Angehörige nicht alle entlastenden Angebote, die ihnen zustehen, auch wahr. "Es wird sich geschämt, das ist falscher Stolz." Vor allem Frauen, so Oppels Erfahrung, informieren sich nicht gut genug über die Unterstützungsmöglichkeiten, die der Staat garantiert. Es ist aber auch nicht einfach, das System an Fördertöpfen zu durchschauen. Hier kann der Verein helfen. Oder ein Gespräch mit einem Pflegeberater, bezahlt von der Pflegekasse.
Noch ist die Pandemie nicht überstanden. Auch das ist ein guter Grund, sich zu informieren. Alle Entlastungsmöglichkeiten zu nutzen. Sich bei den Kirchengemeinden und Ehrenamtlichen zu melden und "die Hilfenetzwerke krisenfest zu machen", wie Oppel sagt. Denn eines ist sicher: Die Wartelisten der Tages- und Kurzzeitpflegen – deren Anzahl auch ohne Pandemie nicht ansatzweise ausreicht – werden auch aufgrund der Hygienevorschriften und Teilnehmendenbeschränkungen länger und länger.
Was er vor allem fürchtet: "Die pflegenden Angehörigen werden sich angesichts der für nächstes Jahr angekündigten Pflegereform von Gesundheitsminister Spahn, die zu weiteren Verschlechterungen führen wird, noch mehr aufopfern und durchhalten, durchhalten, durchhalten, bis sie selbst mit irgendeiner Krankheit daliegen und schließlich kaputtgehen."
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