Im Herbst haben Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) beantragt, dass einzelne Länder zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Patente aussetzen können. Bislang ist das am Widerstand der EU, der USA, Japans und Großbritanniens gescheitert. Welche Folgen hat das für den weltweiten Kampf gegen die Pandemie?
Der Vorschlag von Indien und Südafrika bezieht sich auf Covid-19-Technologien insgesamt. Seine Umsetzung würde bedeuten, dass nicht nur Impfstoffe, sondern auch Tests, Medikamente, Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte von den Patenteregeln der Welthandelsorganisation für den Zeitraum der Pandemie ausgenommen werden. Das wäre für die Eindämmung der Pandemie sehr hilfreich. Zum Beispiel stehen in vielen Ländern zu wenige Schnelltestkapazitäten zur Verfügung und sie sind zu teuer, so dass dort nicht flächendeckend auf Corona-Infektionen getestet werden kann. Auch auf die Impfstoffproduktion würde sich die Freigabe mittel- und langfristig positiv auswirken. Es könnten global mehr Impfstoffe für mehr Menschen hergestellt und damit viele Leben geschützt und gerettet werden.
Das Bundesjustizministerium hat erklärt, es gebe »keine Belege dafür, dass gerade der Schutz geistiger Eigentumsrechte eine angemessene Versorgung mit Produkten behindert«.
Die Belege haben wir in der Behandlung von HIV über zehn Jahre lang gesehen, sehen müssen, und wir sehen sie auch jetzt bei Covid-19. Eigentumsrechte stellen für den gerechten und bezahlbaren Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen ganz klar eine Barriere dar. Menschen im südlichen Afrika haben während der HIV/AIDS-Pandemie zum Teil zehn Jahre darauf gewartet, Zugang zu bezahlbaren Medikamenten zu erhalten. Viele sind in dieser Zeit gestorben. Mittel- und langfristig würde sich ein Aussetzen der Patente sehr wohl positiv auswirken. Zusätzlich braucht es einen Know-how- und Technologietransfer, damit auch in den Ländern des globalen Südens selbst produziert werden kann. Denn das Menschenrecht auf Gesundheit gilt weltweit – nicht nur im globalen Norden.
Würde die Freigabe von Patenten überhaupt etwas nützen? Ist es nicht viel zu kompliziert und langwierig, Produktionskapazitäten für solche Impfstoffe aufzubauen?
Der Technologietransfer ist möglich und er findet statt. Zum Beispiel hat ein Transfer zwischen der Universität in Oxford, dem Hersteller AstraZeneca und dem Serum Institute of India stattgefunden, das ging relativ schnell und ist sehr erfolgreich. Eine Studie aus den USA zeigt, dass der Technologietransfer in der Pandemie durchschnittlich sechs Monate dauert, auch in Bezug auf mRNA-Impfstoffe. Das zeigt: Es gibt die Möglichkeiten, aber wir müssen schnell agieren, um die Produktionskapazitäten rasch auszuweiten. Es geht auch nicht nur darum, neue Produktionsstätten zu schaffen. Im ehemaligen Novartis-Werk bei Marburg wurden vorher keine Impfstoffe produziert. Die Produktionsstätte wurde umgebaut und stellt jetzt den mRNA-Impfstoff von BioNTech her. Hier müsste man schauen, wo noch kurzfristig bestehende Produktionskapazitäten umgebaut oder erweitert werden können – natürlich so, dass nicht an anderer Stelle Engpässe entstehen. Mittel- und langfristig müssen neue Kapazitäten geschaffen werden – und zwar auch im globalen Süden. Von allen Impfstoffen – also nicht nur bezogen auf Coivid-19 –, die in Afrika aktuell verimpft werden, wird nur ein Prozent auf dem Kontinent selbst hergestellt. Diese Abhängigkeit gilt es zu beseitigen.
Die Konzerne wollen, dass sich ihre Investitionen in die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten rentieren. Ist das nicht verständlich?
Die Investitionen kommen längst nicht alle von den Firmen selbst. Weltweit wurden viele Milliarden an Steuergeldern in die Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen und -Medikamenten gesteckt. Die drei Firmen BioNTech, IDT Biologika und Curevac haben allein in Deutschland 750 Millionen Euro Förderung für die Entwicklung von Impfstoffen erhalten – ohne dass daran effektive Bedingungen geknüpft wurden. Sie werden beispielsweise nicht zu Transparenz verpflichtet und müssen nicht offenlegen, wie hoch die Anteile der öffentlichen Förderung und der eigenen Investitionen sind. Es gibt auch keine Bedingungen, dass die Firmen Bezahlbarkeit und Zugang zu den Produkten sicherstellen oder einen Technologietransfer ermöglichen müssen. Es kann nicht sein, dass Steuergelder ohne jede Bedingung vergeben werden und die Menschen am Ende zwei Mal zahlen: einmal als Steuerzahler*innen, zum zweiten Mal über hohe Preise.
Welche Rolle spielt die Grundlagenforschung an öffentlichen Universitäten für die Entwicklung der Impfstoffe und Medikamente?
Eine große. Gerade die mRNA-Technologie wurde bereits vor 25 Jahren an Universitäten erforscht. Ohne diese Grundlagenforschung wären die jetzt auf den Markt gebrachten Produkte undenkbar. Die öffentliche Hand hat also auch hier einen erheblichen Beitrag geleistet. Aktuelle Studien zeigen, dass 97 Prozent des Oxford/AstraZeneca-Impfstoffs aus öffentlicher Hand finanziert wurden. In den USA gibt es eine Auseinandersetzung darüber, wem eigentlich die geistigen Eigentumsrechte am Impfstoff von Moderna gehören, weil die öffentliche Forschung und Finanzierung bei dessen Entwicklung eine sehr große Rolle gespielt haben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Impfstoffe gegen Covid-19 im April 2020 als »globales öffentliches Gut« bezeichnet.
Ja, und das haben wir sehr begrüßt. Aber die Realität ist leider eine andere. Bislang werden die Impfstoffe eben nicht als globale öffentliche Güter behandelt. Stattdessen haben sich einige Länder sehr früh einen Großteil der Präparate gesichert. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) nennt das nicht umsonst »Impfstoff-Nationalismus«. Auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat sinngemäß gesagt, man müsse in der Pandemie innerhalb der Europäischen Union alle Maßnahmen inklusive der Aussetzung geistiger Eigentumsrechte erwägen. Dennoch sorgt die EU weiterhin mit dafür, dass der Vorschlag von Indien und Südafrika in der WTO abgelehnt wird, obwohl über hundert WTO-Mitgliedsstaaten ihn unterstützen.
Wenn in Deutschland und Europa genug Impfstoffe zur Verfügung stehen, ist die Gefahr dann gebannt?
Auf keinen Fall. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat vor einigen Wochen im Bundestag erklärt, dass die Pandemie nur besiegt werden kann, wenn sie überall besiegt wird. Kurzsichtige nationale Ansätze führten nur dazu, dass der Virus »mit dem nächsten Flieger zurückkommt«. Solange es anderswo weitergeht, besteht die Möglichkeit von Mutationen, die alle gefährden und die Pandemie in die Länge ziehen. Darüber hinaus meinen wir aber: Das Menschenrecht auf Gesundheit gilt überall.
Nach Berechnungen der WHO müssen in den ärmeren Ländern viele bis 2023 warten, bis sie geimpft werden können. 20 Staaten haben bislang noch überhaupt keinen Zugang zu Impfstoffen. 800 Millionen Impfdosen wurden bis dato weltweit ausgeliefert. Über 83 Prozent gingen an reichere Staaten und nur 0,2 Prozent an die ärmsten Länder. Diese globale Ungerechtigkeit können wir nicht hinnehmen. Der Covax-Initiative, die für einen weltweiten Zugang zu Impfstoffen sorgen soll, ist unter anderem infolge des Exportstopps durch Indien in massive Schwierigkeiten geraten. Um das Ziel zu erreichen, in den ärmeren Ländern zumindest drei Prozent der Bevölkerung zu impfen, fehlen nach derzeitigen Berechnungen 211 Millionen Dosen. Hier geht es darum, dass wenigstens das Gesundheitspersonal in diesen Ländern geschützt wird. Deshalb müssen diese Impfstoffe so schnell wie möglich zur Verfügung gestellt werden. Die reichen Länder, die sich viele Impfstoffe gesichert haben, stehen hier in der Verantwortung.
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