Die Corona-Pandemie verstärkt bestehende Belastungen in der Pflege und deckt Versäumnisse der vergangenen Jahre auf. Dies zeigt eine von der Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) geförderte Studie, die das Erleben von Pflegekräften in der Zeit der Pandemie zwischen Mai und Juli 2020 dokumentiert. Der Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien und der Arbeitsmediziner Hubertus von Schwarzkopf benennen darin eine Reihe von Faktoren, die zu Gefährdungen führen können. Und sie zeigen auf, welche Gegenmaßnahmen jetzt nötig sind.
Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen sind überdurchschnittlich oft von Corona-Infektionen, aber auch von schweren Erkrankungsverläufen betroffen. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) waren bis Mitte Mai 534 Krankenhausbeschäftigte wegen Covid-19 hospitalisiert, 18 verstarben. Von den 348 hospitalisierten Altenpflegekräften starben sogar 40 – ein Anteil von 11,5 Prozent! Warum die Erkrankungen bei Altenpflegekräften so viel häufiger tödlich enden, erklären Hien und von Schwarzkopf mit der hohen Exposition in der Altenpflege, die »in besonders hohem Maße mit Körpernähe und Körperkontakt verbunden« sei. Dadurch könnten »sehr schnell schwere Erkrankungsverläufe entstehen«. Vor diesem Hintergrund habe das RKI bereits 2005 Empfehlungen veröffentlicht, welche Maßnahmen Pflegeeinrichtungen zur Eindämmung von Infektionen ergreifen sollten. »Doch diese Empfehlungen wurden nicht umgesetzt – ein Versäumnis der Heimbetreiber wie der Behörden, welche jene unterstützen und überwachen sollten«, stellen die Bremer Wissenschaftler kritisch fest. »Nicht zuletzt fehlte es an rechtlich bindenden Verfügungen. Im März 2020 wurden dann viele Pflegeheime von der Infektionswelle unvorbereitet überrascht.«
Mit Verweis auf Studien aus China und anderen Teilen der Welt gehen die Autoren von einer erhöhten psychischen Belastung des Pflegepersonals in der Pandemie aus. So zeige eine Untersuchung aus Wuhan, dass 16 Prozent der Pflegekräfte, die Covid-19-Patient*innen versorgten, an posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Schlaflosigkeit, Angststörungen und depressive Episoden seien weit verbreitet gewesen.
Hien und von Schwarzkopf haben für ihre explorative Studie 26 Interviews mit Pflegekräften aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen geführt, um Hinweise darauf zu erhalten, wie sie die Situation erleben und was sie als besonders belastend empfinden. Ein Ergebnis: »Es ist weniger die Angst vor dem Virus selbst als eher die Problematik der unzureichenden überbetrieblichen und betrieblichen Organisation, die zu teilweise exorbitanten Belastungen der Pflegenden geführt hat.« Das Gesundheits- und Sozialwesen sei offensichtlich auf allen Ebenen unzureichend auf diese Situation vorbereitet gewesen. Und: »Die Corona-Krise schuf keine völlig neuen Belastungen und Gefährdungen, sondern verschärfte die schon bestehenden Belastungen und Gefährdungen. Die Krise deckte schnell die seit Jahren sich kumulierenden Versäumnisse auf.«
Als Belastungsfaktoren identifizieren die Wissenschaftler unter anderem fehlende Beteiligung und unklare oder als inkonsistent empfundenen Vorgaben. »Belastend war für viele Pflegekräfte der Umstand, dass sie sich in den Krisenstäben nicht repräsentiert fühlten und mit wirklichkeitsfremden Anweisungen zurechtkommen mussten.« Hinzu kamen »die schon länger angehäuften Mängel hinsichtlich einer zureichenden Anerkennung und Gratifikation der Pflegearbeit«. Dieses Empfinden steigerte sich seither noch durch die selektive und unzureichende Gewährung von Prämien, die insbesondere in den Krankenhäusern für erheblichen Unmut sorgen. Belastend seien zudem »die räumlichen Verhältnisse, die Materialausstattung und die Personaldecke, oftmals Resultat langjähriger Einsparungs-, Rationalisierungs- und Restrukturierungsprozesse«, erklären Hien und von Schwarzkopf. Als positive Ressource diente vielen Pflegekräften hingegen das unterstützende Team, wobei manche auch Beispiele unsolidarischen Verhaltens beklagten.
Im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sehen die Autoren ebenfalls Defizite. So würden in den Kliniken nur selten auf Covid-19 bezogene differenzierte Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt, in den Pflegeeinrichtungen hätten diese generell gefehlt. Problemadäquate und strukturierte Unterweisungen durch Sicherheits- und Hygienefachkräfte oder Betriebsärzt*innen seien ebenfalls selten. Zudem sei die Möglichkeit »der arbeitsmedizinischen Wunschvorsorge, die gerade in Krisenzeiten genutzt werden könnte«, weder Vorgesetzten noch Beschäftigten bekannt. Gleiches gelte für überbetriebliche Unterstützungsmöglichkeiten durch die Unfallversicherungen oder die BGW. Die Wissenschaftler ziehen daraus den Schluss, dass »auf den Feldern Gefährdungsbeurteilung, Unterweisungen, arbeitsmedizinische Vorsorge und psychosoziale Beratung« deutliche Verbesserungen nötig sind, bei deren Umsetzung die BGW eine wichtige Rolle spielen könne. Grundsätzlich sei »neben einer deutlichen Verbesserung und Aufstockung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes an eine signifikant verbesserte und verbindliche Pflege-Personal-Regelung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, an eine Erhöhung des Gratifikationslevels und an eine Aufbesserung der Raum- und Materialausstattung zu denken«.
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
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