Du bist aktiv in der weltweiten Kampagne von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen für die Freigabe geistiger Eigentumsrechte auf Impfstoffe, Medikamente und Schutzmaterial gegen Covid-19. Am 17. Juni 2022 hat die Welthandelsorganisation (WTO) in der Frage eine Entscheidung getroffen. Worin besteht der erzielte Kompromiss und wie bewertest du ihn?
Der Kompromiss ist eine verwässerte Version des sogenannten Waivers, also des vorübergehenden Verzichts auf Patentrechte. Doch er umfasst lediglich Impfstoffe, und auch in dieser Hinsicht ist er bei Weitem nicht ausreichend. Nicht enthalten sind Diagnostika, Medikamente und andere lebensrettende Produkte wie Schutzausrüstungen oder Beatmungsgeräte. Der Beschluss ist zu eng gefasst und daher völlig inakzeptabel.
Südafrika und Indien hatten den Vorschlag zum Aussetzen der Patente bereits 2020 in die WTO eingebracht. Wie ist die Vereinbarung im Vergleich zu diesem ursprünglichen Plan, den mehr als 100 Länder unterstützt hatten?
Sie ist kurzsichtig und eine absolute Schande. Die Entscheidung hat das Gelegenheitsfenster geschlossen, sich auf künftige Krisen vorzubereiten, die Reaktionszeiten zu verringern und Menschenleben zu retten. Stattdessen muss die Welt weitere zwei Jahre oder länger auf die Möglichkeit eines neuen Waivers zu geistigen Eigentumsrechten warten. Offenbar sind Profite in diesem System wichtiger als Menschen.
Der von Südafrika und Indien vorgelegte Text war ganzheitlich und ein weitergehender Fahrplan im Umgang mit künftigen Gesundheitskrisen. Er hätte zur Steigerung der Produktion lebensrettender Medizinprodukte zu erschwinglichen Kosten in allen Ländern und Regionen geführt. Das hätte die Diskriminierung beim Zugang zu Impfstoffen beendet, die wir in der Corona-Krise erleben. Und es hätte den weltweiten Mangel an essenziellen medizinischen und diagnostischen Produkten in Gesundheitskrisen abgemildert. Ziel war es, den Transfer von Technologien und aller nötigen Informationen, von Forschung und Innovation zu ermöglichen. Das sind die Voraussetzungen dafür, dass Unternehmen oder Staaten die lebensrettenden Materialien produzieren, die dazu potenziell in der Lage sind. Das hätte die Produktion und weltweite Verfügbarkeit in Zeiten des medizinischen Notstands steigern können. Leider hat die WTO-Ministerkonferenz das nicht beschlossen. Sie hat die Welt enttäuscht.
2014/2015 waren die Menschen in afrikanischen Ländern mit dem Ebola-Ausbruch konfrontiert. Hat die Welt aus den damaligen Erfahrungen die richtigen Schlüsse gezogen?
Überhaupt nicht. Wie könnte es sonst sein, dass selbst Gesundheitssysteme entwickelter Länder die Corona-Pandemie so schlecht bewältigen? Sechs Millionen Menschen sind gestorben. Obwohl wir in einer Welt entwickelter Technologien leben, fordert die Pandemie weiterhin vermeidbare Todesfälle. Über 180.000 Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen sind gestorben, während die Welt für sie geklatscht hat. Wenn darin die Lehre aus der Ebola-Epidemie besteht, dann frage ich mich, warum sich unsere Generation modern nennt. Noch empörender ist, dass auch nach sechs Millionen Toten immer noch nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden, wie der gefühllose Beschluss der WTO-Ministerkonferenz zeigt.
Staaten wie die Schweiz, Großbritannien und Deutschland, in denen große Pharmakonzerne beheimatet sind, haben viel dafür getan, die Entscheidung in der WTO zu verwässern. Welche Folgen hat das für die Menschen in ärmeren Ländern?
Dass diese Führer vermeintlich zivilisierter Nationen Profite über Menschenleben stellen, ist beschämend. Sie verteidigen die Gewinne der Pharmafirmen, während Millionen an Ebola und Covid-19 sterben, was ein Aussetzen der Patente vermeiden könnte. Dadurch ruinieren solche Führer ihre Reputation, an ihren Händen klebt Blut. Wie Entscheidung der WTO wird den Graben in der Gesundheitsversorgung zwischen dem Globalen Süden und dem Norden weiter vergrößern und in der Konsequenz zum Verlust weiterer Menschenleben führen, besonders wenn sich weitere Virusvarianten ausbreiten. Es darf niemand zurückgelassen werden. Es braucht eine umfassende Aussetzung der Patente, um die Produktion und bezahlbare Verfügbarkeit von Impfstoffen, Medikamenten und Schutzmaterialien in allen Ländern zu erhöhen.
Wie ist die derzeitige Situation in Liberia in Bezug auf die Pandemie und die Beschäftigten im Gesundheitswesen?
Aktuell sind die Fallzahlen bei Covid-19 relativ niedrig. Allerdings hat sich das Land noch nicht voll vom Bürgerkrieg erholt. Dann kam Ebola und jetzt Covid-19. Das Gesundheitswesen ist in einem beklagenswerten Zustand. Oft fehlt es an Medikamenten, es besteht akuter Mangel an medizinischen und diagnostischen Mitteln sowie Schutzmaterial. Es mangelt auch an der Versorgung mit Trinkwasser und stabiler Elektrizität. Patient*innen und ihre Angehörigen müssen Rettungswagen und die Generatoren der Krankenhäuser betanken, um Notoperationen zu ermöglichen. Manchmal müssen Pflegekräfte das Licht ihrer Mobiltelefone nutzen, um Patient*innen nachts versorgen zu können. So gefährdet sind die Beschäftigten und die Gesundheitsversorgung in Liberia.
Was können Beschäftigte und Gewerkschaften in Deutschland und anderen Ländern tun, um ihre Kolleg*innen im Globalen Süden zu unterstützen?
Sie können ihrer Solidarität zeigen, indem sie von ihren Regierungen fordern, das ursprüngliche Anliegen Südafrikas und Indiens in der WTO zu unterstützen – so, wie es über 100 andere Länder und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), der internationale Gewerkschaftsverband PSI, Ärzte ohne Grenzen und viele weitere zivilgesellschaftliche Organisationen getan haben. In der WHO-Vereinbarung zu Pandemien, über die in den nächsten zwei Jahren verhandelt wird, muss festgeschrieben werden, dass im Falle eines Gesundheitsnotstands ein automatischer Waiver greift. Die Kolleginnen und Kollegen sollten dafür demonstrieren, dass lebensrettende medizinische und diagnostische Produkte in Krisenzeiten öffentliche Güter werden. Damit es endlich heißt: Menschen vor Profite!
Interview: Daniel Behruzi
Großbritannien: Streiks in Kliniken und Unis
Mehrfach haben administrativ-technische Beschäftigte britischer Universitäten in den vergangen Monaten die Arbeit niedergelegt, um für Lohnerhöhungen Druck zu machen. Viele der Angestellten aus Verwaltung, Reinigung, Bibliotheken, Security und Gastronomie sind in den unteren Entgeltgruppen eingruppiert und haben durch die Inflation große Probleme.
So geht es auch den Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer Branchen, die seit Wochen immer wieder streiken. Mitte März (nach Redaktionsschluss) planten Assistenzärzt*innen eine dreitägige Arbeitsniederlegung. Notfallsanitäter*innen wollten ihre Aktionen in verschiedenen Regionen des Landes fortsetzen. Die Gewerkschaft PCS rief für den 15. März rund 130.000 Mitglieder in öffentlichen Einrichtungen zum Streik auf. Für die Krankenhauspflege hat die Regierung nach mehrfachen Streiks Lohnerhöhungen zugesagt, über die nun verhandelt wird.
Spanien: Hunderttausende protestieren
Bis zu eine Million Menschen haben Mitte Februar in Madrid für mehr Investitionen in das staatliche Gesundheitswesen demonstriert. »Gesundheit steht nicht zum Verkauf«, stand auf Transparenten bei der Demonstration, die von Gewerkschaften, linken Parteien und Bürgerinitiativen organisiert wurde. Sie werfen der Regionalregierung vor, kommerzielle Einrichtungen zu bevorzugen, statt mehr Ressourcen für das öffentliche Gesundheitssystem bereitzustellen.
Griechenland: Mehr Geld für Gesundheit
Mit einem 24-stündigen Streik haben sich Beschäftigte der staatlichen Krankenhäuser in Griechenland am 22. Februar für eine bessere Finanzierung des Gesundheitssystems stark gemacht. Ihre Gewerkschaften fordern zudem eine bedarfsgerechte Personalausstattung, höhere Löhne und weniger prekäre Arbeitsverhältnisse. Die schlechten Zustände in Kliniken und Rettungsdiensten sind auch Folge der von der »Troika« aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission in Griechenland ab 2009 durchgesetzten Kürzungen.
Schweiz: Gesetzlicher Schutz für alle
Die Schweizer Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes vpod/ssp hat Ende August die Kampagne »Faire Arbeitszeiten – auch im Heim« gestartet. Sie richtet sich dagegen, dass sozialpädagogisches Personal in stationären Sozialeinrichtungen von den Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen ist. Dadurch sind sie schlechter gegen Überstunden, geteilte Dienste und den Wegfall von Pausen geschützt. »Der Gesundheitsschutz muss für alle gelten«, fordert die Gewerkschaft. »Auch und gerade im Heim, wo viele Beschäftigte hart arbeiten und sowohl physisch wie psychisch stark belastet sind.«
Finnland: Pflegekräfte streiken
Die finnischen Pflegegewerkschaften TEHY und SuPer verstärken ihre Aktionen für Gehaltserhöhungen. Seit Sommer verweigern sie Überstunden und Dienstplanänderungen. Im September wollen sie den Druck mit einer Serie lokaler Streiks erhöhen. Die Gewerkschaften verweisen auf den Personalmangel und fordern eine auskömmliche Finanzierung.
Lettland: Streik für versprochenen Lohn
Die lettische Gesundheitsgewerkschaft LVSADA hat Ende Juli mit einem Warnstreik dagegen protestiert, dass eine versprochene Lohnerhöhung von zehn Prozent nicht umgesetzt wird. Aktuell verdienen Ärzt*innen in Lettland 1.963 Euro, Pflegekräfte und Hebammen 1.183 Euro und Servicekräfte 745 Euro monatlich. Sollten die Entgelte nicht angehoben werden, sind für Ende September weitere Arbeitsniederlegungen geplant.
Frankreich: Protest gegen Personalnot
Französische Gewerkschaften planen Protestaktionen gegen den Personalmangel im Gesundheitswesen, der immer wieder zur Schließung von Betten und Abteilungen führt. Sie fordern eine höhere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen sowie verstärkte Anstrengungen zur Ausbildung und Gewinnung von Arbeitskräften.
veröffentlicht/aktualisiert am 4. Juli 2022
Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeits- und Gesundheitsschutz
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