»Damit für alle mehr bleibt als ein Taschengeld!« Unter diesem Motto fanden am Mittwoch (20. November 2019) landauf, landab Aktionen in und vor Altenpflegeeinrichtungen statt. Die Parole zielt in zwei Richtungen: Zum einen verlangen die Beschäftigten eine angemessene Bezahlung per Tarifvertrag – auch, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Zum anderen fordern ver.di und Sozialverbände die Deckelung der Eigenbeiträge der Bewohner*innen in der stationären Pflege. So kann verhindert werden, dass nötige Lohnerhöhungen und die Aufstockung des Personals allein zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen gehen.
»Wir erinnern an den Diebstahl des Buß- und Bettags als Feiertag vor 25 Jahren«, sagte der Altenpfleger Jürgen Feicht bei einer Aktion in Nürnberg. Mit der Abschaffung des Feiertags in allen Bundesländern außer Sachsen – mit der der Arbeitgeberanteil zur neu geschaffenen Pflegeversicherung »ausgeglichen« werden sollte – seien die Beschäftigten seinerzeit »in Vorleistung« getreten, argumentierte der Gesamtbetriebsratsvorsitzende des AWO-Kreisverbands Mittelfranken-Süd. Doch das habe sich nicht rentiert. »Heute haben wir ein marodes System, mit viel zu wenig Personal und zum Teil extrem hohen Eigenanteilen, die Bewohner oder ihre Angehörigen entrichten müssen«, kritisierte Feicht. Darauf wiesen er und seine Kolleg*innen aus den Pflegeeinrichtungen der Region am Mittwochabend beim »sozialpolitischen Buß- und Bettag« hin, den Kirchen und Sozialverbände gemeinsam mit dem DGB Mittelfranken organisiert hatten. Neben dem Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) war auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in die Nürnberger Peterskirche gekommen. Der CSU-Chef redete drinnen von Nächstenliebe und »seelischer Solidarität«. Draußen demonstrierten Beschäftigte dafür, dass sich diese Appelle in der Pflegepolitik auch tatsächlich niederschlagen.
»Wir brauchen bundesweit einheitliche, bedarfsgerechte Personalschlüssel«, brachte der Altenpfleger Feicht eine zentrale Forderung auf den Punkt. Die bisher beschlossenen Maßnahmen seien bei Weitem nicht ausreichend. »Von den bundesweit 13.000 versprochenen zusätzlichen Pflegestellen sind in Bayern bis September gerade mal 300 angekommen – das ist ein schlechter Witz.« Immer noch müssten im Frühdienst zwei Pflegekräfte 25 schwerstpflegebedürftige Menschen versorgen. »Das ist schon grenzwertig. Bei solchen Bedingungen muss man sich nicht wundern, wenn junge Leute bald nach der Ausbildung wieder weggehen.«
Das findet auch der Pflege-Azubi Felix Feuerstake, der zur gleichen Zeit am anderen Ende der Republik, in Hamburg, an einer ver.di-Veranstaltung teilnahm. Dort wurde ein Film vorgeführt, der aufzeigt, wie weit die Ausbildungsbedingungen in der Altenpflege von dem entfernt sind, wie sie sein sollten. Zum Beispiel bei der Praxisanleitung: Oft komme es vor, dass diese zwar im Dienstplan vermerkt ist, aber nicht durchgeführt werden könne, weil der Praxisanleiter keine Zeit habe oder der Auszubildende kurzfristig anderswo aushelfen müsse. »Wir sind doch nicht die Springer vom Dienst«, kritisierte Feuerstake. »Eine Frechheit ist auch, wenn wir während des Blockunterrichts angerufen werden, ob wir am Wochenende aushelfen können. Wir sind die Zukunft des Berufs, das sollte mehr wertgeschätzt werden.« Auch in seinem persönlichen Umfeld merkt der 29-Jährige, dass die Altenpflege nicht sehr angesehen ist. Dabei gehe es längst nicht nur um Körperpflege. »Wir sind auch Psychologen und Seelsorger. Oft sind wir die Letzten, mit denen alte Menschen Kontakt haben. Das ist wichtig und herausfordernd.« Das müsse in der Öffentlichkeit stärker vermittelt werden.
Im nordrhein-westfälischen Viersen organisierten Altenpflegekräfte aus der Region eine Mahnwache vor dem Kreisforum – mit offenem Feuer. Ihr Motto: »Wir brennen für mehr soziale Gerechtigkeit.« Anschließend diskutierten sie bei einer Podiumsdiskussion mit Vertreter*innen der Politik die Frage: »Wie werden wir alt?« Eine wesentliche Ursache für viele Probleme in der Altenpflege sahen die Teilnehmer*innen parteiübergreifend in den geringen Organisationsgraden und der Tarifflucht insbesondere der kommerziellen Träger.
Um auch für die Beschäftigte bislang tarifloser Einrichtungen Mindestbedingungen festzuschreiben, verhandelt ver.di mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) über einen Tarifvertrag, der vom Bundesarbeitsminister auf die gesamte Altenpflege erstreckt werden soll. Bis zum Jahresende soll ein Ergebnis vorliegen. »Die Altenpflege ist ein wunderbarer Beruf. Damit er attraktiver wird, braucht es gute Arbeitsbedingungen, vor allem mehr Personal und eine anständige Bezahlung«, erklärte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler anlässlich des Aktionstags.
Sie forderte die politisch Verantwortlichen auf, endlich ein einheitliches verbindliches System zur Personalausstattung auf den Weg zu bringen, das sich am Pflegebedarf orientiert. »Der bislang unter Verschluss gehaltene Zwischenbericht über das Instrument zur bedarfsorientierten Personalbemessung, das zu entwickeln der Gesetzgeber in Auftrag gegeben hat, muss endlich veröffentlich werden«, sagte Bühler. »Nach allem, was man hört, bestätigt der Bericht, dass in den Pflegeeinrichtungen über 30 Prozent Personal mehr eingesetzt werden muss, um eine gute Pflege zu gewährleisten.« Damit Pflegebedürftigkeit nicht arm mache, müsse endlich das Dilemma aufgelöst werden, »dass bei jeder Tariferhöhung der Beschäftigten und der dringend erforderlichen Verbesserung der Personalausstattung der Eigenanteil steigt, den Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen für pflegebedingte Leistung zahlen müssen«. Deshalb fordert ver.di als Sofortmaßnahme die Deckelung der Eigenbeiträge.
In den Sozialverbänden sehen das viele genauso. »Das Wichtige ist, genügend Menschen zu haben, die in der Pflege arbeiten«, betonte Torsten Krüger, Bereichsleiter Pflege bei der Grafschafter Diakonie, auf einer Kundgebung in Moers. Dafür seien faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen nötig, »und vor allem: genügend Kolleginnen und Kollegen, die mit anpacken«. Horst Vöge, Landesvorsitzender des Sozialverbands VdK in Nordrhein-Westfalen, forderte ebenfalls Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen, der Bezahlung, bei Fortbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten sowie den Personalschlüsseln. Zudem müsse die Pflegeversicherung die pflegebedingten Kosten künftig voll finanzieren. Das erklärte auch die Vorsitzende des Sozialausschusses der Stadt Moers, Ursula Elsenbruch: »Pflegebedürftigkeit darf kein Armutsrisiko sein, wir brauchen schnell eine Pflegevollversicherung. Die Menschen haben ein Recht, in Würde alt zu werden«, so die SPD-Politikerin bei der Kundgebung vor dem AWO-Seniorenzentrum Johannes Rau Haus.
Auch in Braunschweig treten Gewerkschaft und Arbeiterwohlfahrt gemeinsam für veränderte Rahmenbedingungen ein. »Wir fordern gemeinsam mit unserem Arbeitgeber, dass die Eigenanteile der Bewohner gedeckelt werden«, erklärte Angelika Schwarz, Vorsitzende des Unternehmensbetriebsrats im AWO-Kreisverband Braunschweig. Bei jeder Tarifverhandlung sei es ein Problem, dass Kostensteigerungen im bisherigen Finanzierungssystem vor allem zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen gehen. »Eigentlich haben die Bewohnerinnen und Bewohner selbst ein Interesse daran, dass die Beschäftigten gut bezahlt werden und entsprechend motiviert sind«, betonte die Sozialpädagogin. Aber viele könnten die hohen Eigenbeiträge nicht mehr bezahlen. Für tarifgebundene Einrichtungen sei das zudem ein Wettbewerbsnachteil. Bei der AWO in Braunschweig haben die Beschäftigten vor zwölf Jahren mit etlichen Aktionen und mehreren Streiktagen einen Haustarifvertrag erreicht. Seither laufen die Tarifverhandlungen alle zwei Jahre sehr konstruktiv, doch die hohen Eigenanteile sind ein Problem.
Das gilt auch für Prosenis im ostfriesischen Leer, wo die Belegschaft 2014 einen Haustarifvertrag erkämpfte. Das war seinerzeit eine deutliche Verbesserung, allerdings liegt das Entgeltniveau nur bei 90 Prozent des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD). »Wir machen dieselbe Arbeit wie andere. Deshalb wollen wir auch nicht schlechter bezahlt werden als im Flächentarifvertrag«, so der Betriebsratsvorsitzende Reinhard Bansemeier. Doch das Finanzierungssystem macht es ihm und seinen Kolleg*innen schwer. »Wir haben ein Selbstzahler-Haus und wenn die Eigenbeiträge noch weiter steigen, müssen Menschen dort womöglich ausziehen. Das wollen wir natürlich nicht«, betonte Bansemeier, der auch Mitglied der ver.di-Tarifkommission ist. »Aber wir können nicht auf unser Recht und die nötige Lohnerhöhung verzichten. Stattdessen muss sich das Finanzierungssystem ändern.«
Als Alternative sieht ver.di eine Pflegebürgervollversicherung, in die alle Einkommensarten zur Finanzierung herangezogen werden und die alle pflegebedingten Risiken abdeckt. Dass das möglich und finanzierbar ist, belegt ein aktuelles Gutachten, das der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erstellt hat.