Altenpflege

»Aus den Teufelskreisen ausbrechen«

Studie zur Altenpflege: Harte Arbeitsbedingungen, wenige Gewerkschaftsmitglieder. Wie kann sich das ändern? Interview mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder
07.11.2017
Altenpflege

Wolfgang Schroeder ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel und Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung hat er eine Studie zur Interessenvertretung in der Altenpflege erstellt.

In Medien und Politik ist viel von der älter werdenden Bevölkerung die Rede, weshalb auch die Altenpflege verstärkt Thema ist. Sie haben Pflegekräfte nach ihren Wahrnehmungen und Einstellungen befragt. Empfinden diese es so, dass ihr Beruf heute mehr wertgeschätzt wird als früher?

Interessant ist: In der Wahrnehmung der Bevölkerung ist der Pflegeberuf mittlerweile relativ hoch angesehen. Die Pflegekräfte selbst haben jedoch den Eindruck, dass die Gesellschaft ihre Arbeit unzureichend würdigt. Ihnen ist es sehr wichtig, Anerkennung für ihren harter Job zu bekommen. Sie erhalten diese aber hauptsächlich von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen – weniger von der Gesellschaft.

Manche sprechen in diesem Zusammenhang von »Zuneigungsgefangenschaft«: Die starke Bindung an die Patient/innen bzw. Bewohner/innen führe dazu, dass sich die Pflegekräfte nicht für ihre eigenen Interessen einsetzten. Ist das so?

Historisch betrachtet war die Pflege eine größtenteils kirchlich-karitative Tätigkeit, die vielfach von Nonnen ausgeführt wurde. Das hat sich nach und nach professionalisiert, allerdings erst relativ spät. Der professionelle Pflegeberuf mit einer »normalen« Arbeitnehmerbiographie ist also vergleichsweise jung. Die Mentalität der Pflegekräfte ist zum Teil noch in dieser alten Struktur vom karitativen »Liebesdienst« verhaftet. Dem entgegen steht, dass die Pflege inzwischen stark ökonomisiert und die Arbeit sehr verdichtet ist. Das passt nicht zusammen. Es behindert die Organisation von Beschäftigteninteressen. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einem »gebrochenen Arbeitnehmerbewusstsein«, das kollektives Handeln über Betriebsräte und Gewerkschaften erschwert.

Was sind aus Sicht der Beschäftigten die zentralen Probleme?

 
Wolfgang Schröder

Das meist genannte Problem ist die unzureichende Personalausstattung, die zu Leistungsverdichtung und Zeitknappheit führt. Die Forderung nach einer auskömmlichen Personalbemessung ist daher zentral. Ebenso wichtig ist die Erhöhung der Gehälter. Angesichts der harten Arbeit und der hohen Qualifikation müssten Pflegekräfte deutlich besser bezahlt werden. Fast noch größer ist aber das Problem, dass 65 Prozent aller Pflegekräfte nur Teilzeitverträge haben. Die Folge ist, dass ein Großteil dieser Beschäftigten nie einen auskömmlichen Rentenanspruch erwerben wird. Zum Teil handelt es sich um freiwillige Teilzeitarbeit, vielfach ist sie aber auch unfreiwillig, weil keine Vollzeitstellen angeboten werden. Hier müssen die Arbeitgeber etwas ändern, damit die Beschäftigten von ihrer Arbeit leben können.

Von wem erwarten die Beschäftigten Veränderungen?

Die Mehrheit der Pflegekräfte sieht den Staat in der Verantwortung. Interessanterweise werden die Arbeitgeber seltener als Adressaten genannt. Dabei könnten die Träger ja einiges tun, zumal in der Altenpflege zum Teil hohe Renditen erwirtschaftet werden. Dennoch ist aus Sicht der Beschäftigten die Politik maßgeblich, weil diese den Rahmen absteckt. Für die Entwicklung kollektiver Arbeitsbeziehungen ist das problematisch, weil die Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber zu kurz kommt.

Vergleichsweise schlechte Bezahlung, mangelnde gesellschaftliche Anerkennung, hohe Arbeitsbelastung – es gibt viele Gründe, warum sich Pflegekräfte für ihre Interessen engagieren sollten. Warum tun sie das dennoch so selten?

Erstens sind die genannten historischen Gründe zu nennen, die erst relativ spät zu einer Institutionalisierung und Professionalisierung dieses Arbeitsfeldes geführt haben. Zweitens wegen der erwähnten »Zuneigungsgefangenschaft«, der engen Beziehung zu den pflegebedürftigen Menschen. Drittens hat der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigung zur Folge, dass die eigene Identifikation zum Teil eher außerhalb der Beruflichkeit liegt, was offenbar keine gute Voraussetzung für kollektives Handeln ist. Und viertens gibt es einen »Teufelskreis der defekten Interessenvertretung«: Weil es wenige Gewerkschaftsmitglieder in der Altenpflege gibt, hat die Gewerkschaft auch wenige Ressourcen. Das ist eine Ursache dafür, dass nur wenige Hauptamtliche in diesem Bereich aktiv sein können. Also ist die Gewerkschaft dort nicht so präsent, wie es notwendig wäre. Den Pflegekräften bieten sich daher auch wenige Möglichkeiten, der Gewerkschaft zu begegnen. Einer unserer Befunde ist: Viele Pflegende können sich grundsätzlich vorstellen, Mitglied der Gewerkschaft zu werden, doch sie hatten noch nie oder kaum Kontakt zu ihr. Sie haben gar keine Vorstellung davon, was Gewerkschaften machen und wie sie selbst aktiv werden könnten.

Sie beschreiben in ihrer Studie auch noch einen anderen Teufelskreis: Die hohe Arbeitsbelastung hindere Pflegekräfte daran, sich für ihre Interessen einzusetzen. Beißt sich die Katze da nicht in den Schwanz? Wie soll sich an den Bedingungen etwas ändern, wenn die Kolleg/innen nicht aktiv werden?

Das ist ein wesentlicher Punkt. Denn selbst wenn der Staat für bessere Rahmenbedingungen sorgen würde, wäre das unzureichend. Politische Vorgaben kommen zum Teil nicht in den Betrieben an, weil die Beschäftigten dort keine Primärmacht entwickeln. Das heißt: Wenn sich im Betrieb niemand dafür einsetzt, dass Gesetze und Standards auch eingehalten werden, werden sie häufig ignoriert oder umgangen. Deshalb muss sich neben der Rahmensetzung durch die Politik auch die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Beschäftigten verbessern.

Und hier kommt der zweite Teufelskreis zum Tragen: Pflegekräften bleibt wegen der harten Arbeitsbedingungen oft wenig Zeit, Energie und Kreativität, sich auf kollektives Handeln einzulassen. Es gibt allerdings Unterschiede: Höher qualifizierte Beschäftigte sind eher bereit und in der Lage, gemeinsam zu handeln, als Hilfs- und Assistenzkräfte. Das hängt womöglich mit den beruflichen Biographien zusammen: Weniger qualifizierte Beschäftigte sind nach Phasen der Arbeitslosigkeit oder in anderen Berufen oft froh, überhaupt einen Job gefunden zu haben. Ihnen fällt es noch schwerer, sich zu wehren.

Was kann ver.di tun, diese »Teufelskreise« zu durchbrechen?

Als ersten Schritt könnte ver.di versuchen, die Mitglieder betrieblicher Interessenvertretungen stärker anzusprechen. Das sind ja Leute, die schon etwas tun. Aber von ihnen sind weniger organisiert als in anderen Branchen. Da wäre also schon mal ein nicht unerhebliches Potenzial für gewerkschaftliche Organisierung, zumal diese Akteure Multiplikatoren in den Belegschaften sind. Zweitens sollte ver.di über den Pflegebereich hinaus Kräfte mobilisieren, um in der Branche tätig zu werden. Diejenigen Gewerkschafter, die in der Altenpflege aktiv sind, machen einen super Job – aber es sind zu wenige. Sie brauchen Unterstützung aus den anderen Bereichen von ver.di, um die Möglichkeiten zur Erschließung neuer Betriebe zu verbessern. Drittens müssten die Gesellschaft und aufgeklärte Arbeitgeber ein Interesse an funktionierenden Arbeitsbeziehungen in der Altenpflege haben. Denn andernfalls verliert der Pflegeberuf weiter an Attraktivität, was den Fachkräftemangel verschärfen würde.

Was sollte der Staat tun, um die Altenpflege zukunftsfest zu machen?

Der Staat muss Einfluss nehmen, damit die Altenpflege besser bezahlt wird. Zudem braucht es verbindliche Vorgaben bei der Personalbesetzung. Die Ausgaben der Sozialversicherungen würden dadurch sicherlich steigen. Daran führt aber kein Weg vorbei. Hinzu kommt: Der Staat muss für Transparenz sorgen. Auf der einen Seite erzielen private Konzerne und Finanzinvestoren in der Altenpflege hohe Renditen. Andererseits sind die Beschäftigten unterbezahlt und überlastet. Wie passt das zusammen in einem Bereich, der für die Daseinsvorsorge dieser Republik so wichtig ist?

Lesetipp

 
"Interessenvertretung in der Altenpflege"

Wolfgang Schroeder: Interessenvertretung in der Altenpflege. Zwischen Staatszentrierung und Selbstorganisation. Wiesbaden, Springer VS, 2018, 248 Seiten, 44,99 Euro. ISBN: 978-3-658-19406-2

 

Kontakt

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    Al­ten­pfle­ge

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    Pfle­ge­po­li­ti­k, Pfle­ge­ver­si­che­rung, Di­gi­ta­li­sie­rung im Ge­sund­heits­we­sen

    030/6956-1811

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