Fachtagung Altenpflege

Mehr Geld, mehr Personal

Die Bedingungen in der Altenpflege müssen sich grundlegend verbessern. ver.di-Fachtagung in Göttingen begrüßt neuere Entwicklungen, sieht aber noch viel Handlungsbedarf.
28.10.2019
Fachtagung Altenpflege 2019: Für einen flächendeckenden Tarifvertrag und gegen rechte Hetze

Wer für seine Gesetze wohlklingende, aber irreführende Namen erfindet, muss damit rechnen, falsch verstanden zu werden. Der Bundestag werde höhere Löhne für die Altenpflege beschließen, hieß es am Donnerstagmorgen (24. Oktober 2019) in den ARD-Kurznachrichten. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler hatte noch am gleichen Tag bei der Fachtagung Altenpflege in Göttingen Gelegenheit, diese Behauptung zu korrigieren. Mit dem »Pflegelöhneverbesserungsgesetz«, das zeitgleich den Bundestag passierte, sei keineswegs bereits eine angemessene Bezahlung von Altenpflegekräften erreicht. Es sei aber ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung eines flächendeckenden Tarifvertrags, für den ver.di seit Jahren streitet.

»Die Politik hat die Altenpflege in den Wettbewerb geschickt und für privates Profitstreben geöffnet. Jetzt steht sie in der Verantwortung, wieder Ordnung zu schaffen«, stellte die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen vor den 75 in Göttingen versammelten Belegschaftsvertreter*innen fest. In der Altenpflege besteht eine sehr zersplittere Tariflandschaft, vor allem weil sich kommerzielle Anbieter aber auch etliche Wohlfahrtseinrichtungen der Tarifbindung entziehen. In über 10.000 der insgesamt rund 14.500 stationären Einrichtungen sind die Beschäftigten ohne tarifvertraglichen Schutz. Bei den fast ebenso vielen ambulanten Pflegediensten sieht es nicht besser aus. »All diese Einrichtungen allein über betriebliche Konflikte in die Tarifbindung zu bringen, das schaffen wir nicht«, gab Bühler zu. Deshalb setze ver.di auf die Unterstützung der Politik.

Zunächst einmal sind aber ver.di und die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) am Zug. Am Freitag, dem zweiten Tag der Göttinger Tagung, nahmen sie in Berlin Verhandlungen über einen Tarifvertrag auf, der dann vom Bundesarbeitsministerium auf die gesamte Altenpflege erstreckt werden soll. Auch die Kirchen werden in den Prozess einbezogen, ohne diese oder die Gewerkschaft in Bezug auf den kircheneigenen »Dritten Weg« zu überfordern. Doch auch wenn alles klappt und der flächendeckende Tarifvertrag im Frühjahr kommenden Jahres wirksam wird – die gewerkschaftliche Organisierung und der Abschluss weiterer Tarifverträge werden dadurch keinesfalls überflüssig. Denn die flächendeckende Vereinbarung wird nur Mindestbedingungen festschreiben. »Alle bestehenden oder künftigen Tarifregelungen, die für die Beschäftigten besser sind, werden nicht in Frage gestellt«, betonte Bühler.

Kommerzielle Firmen gegen Tarifverträge

Die kommerziellen Arbeitgeberverbände lassen derweil keine Möglichkeit aus, um deutlich zu machen, dass sie den flächendeckenden Tarifvertrag für das Übel schlechthin halten. »Ausgerechnet sie singen jetzt das hohe Lied der Tarifautonomie und rufen nach dem Staat, der das von ihnen geschaffene Problem in der Pflegemindestlohnkommission lösen soll – das ist absurd«, sagte Bühler. Die Erfahrungen in der Pflegemindestlohnkommission hätten hinlänglich bewiesen, dass die nötigen Verbesserungen auf diesem Weg nicht zu erreichen seien.

 

Gerade profitorientierte Unternehmen – die die geringe Zahl an ver.di-Mitgliedern in der Altenpflege als Argument gegen einen flächendeckenden Tarifvertrag anführen – versuchten vielfach mit allen Mitteln, die gewerkschaftliche Organisierung ihrer Belegschaften und Tarifverträge zu verhindern, kritisierte Bühler. Berichte von Beschäftigtenvertreter*innen aus kommerziellen Pflegeheimen am Rande der Tagung bestätigten diese Einschätzung. So habe beispielsweise das Management der Deutschen Pflege und Wohnstift GmbH in Leipzig-Plagwitz versucht, schon die Gründung eines Wahlvorstands zur Betriebsratswahl zu unterbinden. »Da wurden etliche Anwälte aufgefahren, die Wahlbekanntmachung abgerissen und der Versammlungsraum gesperrt, in dem der Wahlvorstand gewählt werden sollte«, berichtete eine Kollegin. Nach der Betriebsratsgründung ging es so weiter: Unter Vorwänden sollte eine Betriebsrätin gekündigt werden, was vor dem Arbeitsgericht scheiterte. Die Kollegin ist immer noch da und der Betriebsrat lässt sich nichts gefallen. Doch die Bezahlung ist weiterhin unterirdisch. Pflegehilfskräfte werden mit dem Pflegemindestlohn, Hauswirtschaftlerinnen sogar mit dem gesetzlichen Mindestlohn abgespeist, die Entgelte der Pflegekräfte per Einzelvertrag und zum Teil ganz unterschiedlich festgelegt.

Auch in einer hessischen Einrichtung des Pflegekonzerns Korian werden die Löhne und Bedingungen per Arbeitsvertag und nach Marktlage festgelegt. Die Folge: Beschäftigte, die schon lange im Betrieb sind, bekommen zum Teil mehrere hundert Euro weniger als Neueingestellte. »Das schafft Unfrieden und Unzufriedenheit«, berichtete ein Betriebsrat. Die »Arbeitsvertragsrichtlinien«, die der französische Konzern angeblich anwendet, lägen ihm nicht vor.

»Das entlarvt das vom Arbeitgeberverband der kommerziellen Träger bpa verbreitete Märchen, die Bedingungen seiner Mitgliedsunternehmen seien durch diese sogenannten Arbeitsvertragsrichtlinien hinlänglich reguliert«, kommentierte ver.di-Sekretär Matthias Gruß. »Abgesehen davon, dass solche einseitigen und unverbindlichen Festlegungen etwas ganz anderes sind als auf Augenhöhe verhandelte Tarifverträge.«

Beschäftigte organisieren sich

Doch auch Tarifverträge können in der Altenpflege durchgesetzt werden, wenn sich die Beschäftigten dafür organisieren. »Bei uns sind viele in ver.di aktiv geworden und nach acht Monaten Auseinandersetzung haben wir einen Haustarifvertrag erreicht«, berichtete eine Kollegin von der Wohnungsbaugenossenschaft Süderelbe, die in Hamburg zwei Pflegeheime betreibt. Das Problem verschiedener Gehaltsniveaus innerhalb der Belegschaften werde damit endlich beseitigt.

Bei der Heim gGmbH in Chemnitz haben es die Beschäftigten ebenfalls geschafft, einen Tarifvertrag durchzusetzen. Während der seit 2017 laufenden Auseinandersetzung hat sich die Zahl der ver.di-Mitglieder auf über 200 vervierfacht. Mit Aktionen und einer Demonstration machte die Belegschaft öffentlich auf die schlechte Bezahlung aufmerksam. Und sie bereitete einen Streik vor. »Man muss sich fragen, was schlimmer ist: Jahrelang unzureichende Bezahlung und schlechte Pflege oder drei Tage Streik mit Notdienstvereinbarung?«, so die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Melanie Hentschel. Letztlich ließ es der Arbeitgeber nicht darauf ankommen und verhandelte über einen Tarifvertrag, der 2020 in Kraft tritt. Dann werden sich die Entgeltsteigerungen für die rund 850 Beschäftigten inklusive zuvor bereits in Kraft getretener Lohnerhöhungen auf insgesamt etwa 20 Prozent summieren. Auch wenn das Gehaltsniveau damit immer noch gut zehn Prozent unter dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) liegt – der Anfang ist gemacht. Für Hentschel ist die Schlussfolgerung klar: »Wenn man bereit ist, sich zu wehren, dann können wir auch in der Altenpflege etwas erreichen.«

Etwas erreichen können auch die betrieblichen Interessenvertretungen – wenn sie ihre Rechte konsequent nutzen, argumentierte Holger Danke, Betriebsrat im Helios-Klinikum Salzgitter. »Ob in der Altenpflege oder im Krankenhaus – es geht nur noch ums Geld«, stellte Danke fest, der 2018 mit seinem Gremium den Deutschen Betriebsrätepreis gewonnen hat. Und genau beim Geld sollten die Interessenvertretungen die kommerziellen Unternehmen treffen, indem sie »Arbeiten mit zu wenig Personal teurer machen als mit mehr Personal«. Wie das geht? Der Betriebsrat in Salzgitter hat es vorgemacht: Er pochte auf seine Mitbestimmungsrechte, nicht nur bei der Aufstellung von Dienstplänen, sondern auch bei deren Änderung. Nach mehreren Gutachten, Einigungsstellen- und Gerichtsverfahren erreichten Danke und seine Kolleg*innen, dass Helios für 27 Verstöße gegen die Mitbestimmung zu einen Ordnungsgeld von insgesamt 135.000 Euro verdonnert wurde. »Das ging wie ein Lauffeuer durch den Konzern«, berichtete Danke. Seither begegneten sich Management und Betriebsrat auf Augenhöhe und hätten unter anderem eine Betriebsvereinbarung zur Dienstplangestaltung abgeschlossen. »Es war ein steiniger Weg, aber mit langem Atem, Zusammenhalt und der Unterstützung von ver.di haben wir es geschafft.«

Instrument zur Personalbemessung

Neben der betrieblichen setzt sich ver.di weiterhin auch auf der politischen Ebene dafür ein, dass mehr Personal in die Einrichtungen kommt. Höhere Löhne seien dafür eine entscheidende Voraussetzung, erklärte die Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand, Grit Genster: »Nur mit einer besseren Bezahlung sind die nötigen Fachkräfte zu halten und zu gewinnen.« Das gelte besonders für die Altenpflege, wo die Durchschnittsgehälter um 600 Euro monatlich unter denen der Krankenpflege liegen. Diese Lücke müsse dringend geschlossen werden, sonst könnten viele Pflegekräfte im Zuge der Einführung der generalistischen Pflegeausbildung in die Kliniken abwandern, warnte Genster.

Die ver.di-Verantwortliche für Gesundheitspolitik berichtete von den neueren Entwicklungen zur Schaffung eines Instruments zur Personalbemessung in der stationären Pflege. Ein Gutachten des Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang zum Thema sei noch nicht veröffentlicht. Das Ergebnis dürfte aber aller Voraussicht nach sein, dass es in den Pflegeheimen an Personal fehlt. »Entscheidend ist, dass mehr Fachkräfte in die Einrichtungen kommen. Wenn es außerdem auch mehr Hilfskräfte gibt, ist das natürlich positiv«, stellte Genster klar. Die Entwicklung eines Personalbemessungsinstruments sei allerdings nur der erste Schritt. »Ob und wie es dann auch umgesetzt wird, steht nicht fest. Hier müssen wir weiter Druck machen.«

Verbesserungen nicht zu Lasten der Bewohner*innen

Mehr Geld und mehr Personal – dass das im Interesse von Beschäftigten und Bewohner*innen nötig ist, war unter den in Göttingen versammelten Belegschaftsvertreter*innen Konsens. Doch zugleich stellten sie klar, dass dies nicht allein zu Lasten der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen gehen darf. In stationären Einrichtungen liegen die durchschnittlichen Pflegekosten laut Genster bei knapp 700 Euro, inklusive Unterbringung, Investitionskosten etc. bei fast 1.900 Euro im Monat. Schon jetzt können sich das viele nicht leisten, jeder dritte pflegebedürftige Mensch ist auf vom Staat gezahlte Hilfe zur Pflege angewiesen. »Damit verfehlt die Pflegeversicherung ihr vor 25 Jahren formuliertes Ziel, die Menschen aus der Sozialhilfe herauszuholen«, kritisierte Genster. ver.di schlägt deshalb eine solidarisch von allen Bürger*innen getragene Pflegebürgervollversicherung vor. Dass diese möglich und finanzierbar, hat Professor Rothgang kürzlich in einem von ver.di in Auftrag gegebenem Gutachten nachgewiesen.

Eine solche grundlegende Reform sei das mittelfristige Ziel, erläuterte Genster. Kurzfristig müssten in einem ersten Schritt die Eigenanteile pflegebedürftiger Menschen begrenzt werden, damit Bewohner*innen und Angehörige nicht gegen die Beschäftigten ausgespielt werden könnten. Um für diese Forderung – die ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Sozial- und Angehörigenverbänden sowie SPD, Linkspartei und Grüne mitträgt – Druck zu machen, mobilisiert ver.di am 20. November zu einem gemeinsamen Altenpflege-Aktionstag. Dann wollen auch die Teilnehmer*innen der Göttinger Tagung zusammen mit ihren Kolleg*innen und möglichst auch mit Bewohnerinnen und Bewohnern auf die Straße gehen, unter dem Motto: »… Damit für alle mehr bleibt als ein Taschengeld!«

 

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