Laut einer Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer des Saarlandes sowie des Instituts Arbeit und Technik könnten mindestens 300.000 Vollzeitstellen in der Pflege zusätzlich besetzt werden, indem Beschäftigte in ihre Berufe zurückkehren bzw. ihre Teilzeitverträge aufstocken. Als Voraussetzung nennen sie bessere Arbeitsbedingungen. Was will die Bundesregierung tun, um dieses große Potenzial für die Pflege zu heben?
Diese Zahlen finde ich sehr ermutigend. Sie zeigen mir, dass Pflegekräfte ihren Beruf gern ausüben, aber mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden waren oder sind. Hier setzt auch die Politik an und verfolgt zwei Strategien. Zum einen werden Arbeitgeber auf ihrem Weg zu besseren Arbeitsbedingungen unterstützt durch entsprechende Fördermitteltöpfe, sowohl zur Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf als auch zur Digitalisierung. Ich selbst habe ein Projekt, das Pflegeeinrichtungen mit Hilfe externer Coaches dabei unterstützt, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Zum anderen werden die Rahmenbedingungen hinterfragt und modernisiert. Allem voran wurde ein Personalbedarfsbemessungsverfahren für die stationäre Pflege entwickelt und erprobt, das nun gesetzlich umgesetzt wird. Daneben ist ab dem 1. September dieses Jahres eine Bezahlung nach bzw. in Anlehnung an Tarifverträge als Zulassungskriterium für stationäre Pflegeeinrichtungen gesetzlich vorgeschrieben. Auch die Pflegeausbildung wurde reformiert und bei der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte wurden neue Ansprechpartner installiert, um die Verfahren unbürokratisch und schneller durchlaufen zu können. Es ist also einiges im Gange, um die Potenziale zu heben.
Für die meisten Pflegekräfte ist das entscheidende Kriterium laut Studie mehr Zeit für eine gute Pflege durch mehr Personal.
Das unterschreibe ich sofort. Zeit für die Pflege und Betreuung zu haben, hat aber auch etwas mit guten Arbeitsbedingungen zu tun. Und für gute Arbeitsbedingungen sind bekanntlich die Arbeitgeber in der Pflicht. Sie können ihre Beschäftigten anständig bezahlen, sich Gedanken über ihre Prozesse und Dienstpläne machen und für eine suffiziente IT-Ausstattung sorgen. Die Politik kann wie erwähnt hier mit Fördertöpfen unterstützen. Andererseits müssen auch die Pflegekräfte noch viel stärker erkennen, dass nichts von selbst geschieht. Aus meiner Sicht wäre es wichtig, wenn sich viel mehr Beschäftigte gewerkschaftlich organisieren, um ihren Chefs Paroli bieten zu können. Hier haben andere Branchen deutlich die Nase vorn.
Aufgabe der Politik ist es, zum Beispiel die Refinanzierbarkeit von ausreichend viel Personal zu ermöglich. Genau das geschieht ja auch mit der Einführung eines verbindlichen Personalbemessungsverfahrens. Das gibt es zwar erstmal nur für die Altenpflege. Für die Krankenpflege bin ich jedoch bereits im Gespräch mit dem Minister, damit wir auch hier rasch vorankommen.
Immer, wenn ich vom Personalbemessungsverfahren spreche, gibt es einige Einrichtungsträger und Verbände, die sofort hinterfragen, wo denn die Kräfte herkommen sollen. Dann verweise ich gern auf die gerade erwähnte Studie, die die Potenziale besserer Arbeitsbedingungen sehr schön verdeutlicht. Aber auch die steigenden Ausbildungszahlen machen Mut. Ein weiterer Baustein besteht in der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte. Und auch die Integration Geflüchteter aus der Ukraine bietet Chancen. Hier sind übrigens die Länder gerade dabei, spezielle Anpassungslehrgänge zu entwickeln. Der Bund unterstützt und koordiniert über eine neue Bundeskontaktstelle beim Deutschen Roten Kreuz.
Kurzum: Nur immer auf den leergefegten Arbeitsmarkt zu zeigen und das Hamsterrad der Arbeitsverdichtung und Burnout billigend in Kauf zu nehmen, halte ich für engstirnig oder gar zynisch. Gerade dann braucht man doch ein verbindliches Personalbemessungsverfahren, das Personal und Pflegebedürftige schützt, indem es dafür sorgt, dass die Arbeit auch geschafft werden kann. Wie sonst will ich diesen Teufelskreislauf von Pflexit und wiederum steigender Arbeitsverdichtung durchbrechen?
Für die Krankenhäuser haben die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat und ver.di schon im Januar 2020 die PPR 2.0 als Instrument für eine bedarfsgerechte Personalbemessung vorgelegt. Laut Koalitionsvertrag soll es kurzfristig umgesetzt werden. Doch geschehen ist bislang nichts. Wo hakt es?
Ich hatte ja schon kurz angerissen, dass wir in der Altenpflege einen Schritt weiter sind. Allerdings ist der Handlungsbedarf im Krankenhaussektor aus meiner Sicht ein anderer. Denn das Pflegebudget sichert bereits die Refinanzierung sämtlicher Pflegestellen – Krankenhäuser könnten also jetzt schon mehr Pflegekräfte anstellen und bekommen sie refinanziert.
Aber natürlich braucht es ein solches Verfahren trotzdem. Denn zwischen Personaluntergrenzen – als Grenze zur patientengefährdenden Pflege – und einer optimalen Personalausstattung für eine Pflege ohne Hetze sehe ich einen gravierenden Unterschied. Darum müssen beide Bestandteile gut austariert und mit dem Pflegebudget kompatibel ausgestaltet werden.
Das Instrument zur Personalbemessung in der Altenpflege liegt zwar vor. Doch die bislang beschlossenen Maßnahmen füllen die von Professor Rothgang errechnete Personallücke nur zu 40 Prozent.
Es stimmt zwar, dass die zum 1. Juli 2023 in Kraft tretenden Personalschlüssel zirka 40 Prozent des Mehrbedarfs abbilden. Allerdings wurden bei der Personalbemessungsstudie keine Organisationabläufe betrachtet. Professor Rothgang spricht daher selbst von Effizienzpotenzialen, die es noch auszuloten gilt. Genau darum gibt es eine »Roadmap«, die den Weg und die Zwischenschritte zur Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens in der Altenpflege aufzeigt.
Vorgesehen sind neben der erwähnten Teil-Umsetzung des sogenannten Algorithmus 1.0 jetzt Piloteinrichtungen, in denen die Organisationsstrukturen genauer angeschaut und der Einsatz digitaler Hilfsmittel geprüft werden. Im Ergebnis soll das bestehende Verfahren zu einem Algorithmus 2.0 weiterentwickelt werden. Anschließend muss dieser dann gesetzlich festgeschrieben werden – vielleicht über eine Konvergenzphase. Das finde ich in dieser Reihenfolge auch richtig, denn mit einem letztlich bundesweit verbindlichen Personalbemessungsverfahren dürfen keine Anreize für unwirtschaftliches Handeln zementiert werden. Es geht vielmehr um einen zeitgemäßen Personalmix, der sich an der Pflegelast der Bewohnerinnen und Bewohner und nicht an der Größe des Wasserkopfs orientiert. Hier biete ich mit meinem Projekt zur Umsetzung guter Arbeitsbedingungen interessierten Pflegeeinrichtungen Unterstützung an, weil man bereits heute durch schlankere Prozesse Pflegekräfte hier und da noch weiter entlasten kann.
Mit dem noch unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beschlossenen Gesetz GVWG wird beim Personal in Pflegeeinrichtungen zwar eine Obergrenze definiert, es werden aber keine Mindestbesetzungen festgeschrieben. Weiterhin muss vielerorts beispielsweise nachts eine examinierte Pflegekraft allein eine Vielzahl pflegebedürftiger Menschen versorgen. Halten Sie das für hinnehmbar?
Ich lese das Gesetz anders. Die Mindestbesetzungen sollen noch durch die Selbstverwaltung auf Bundesebene festgelegt werden und auf Landesebene gelten. Das gleiche gilt für die erforderlichen Qualifikationen des Pflege- und Betreuungspersonals. Bei einer kleineren Einrichtung kann dann sicherlich auch eine Fachkraft neben X Hilfskräften ausreichend sein. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, die Ergebnisse sehr genau anzuschauen, wenn diese nächstes Jahr auf den Tisch kommen.
Die derzeitigen Vorgaben für die Personalausstattung in der stationären Pflege sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Sie sind weder bedarfsgerecht noch verbindlich. Muss der Gesetzgeber nachsteuern?
Genau das passiert ja gerade mit dem Personalbemessungsverfahren. Wir sind jetzt auf dem Weg zu bundeseinheitlichen Personalschlüsseln. Allerdings wird es noch etwas dauern, bis wir überall den gleichen Stand haben und der bereits erwähnte Algorithmus 2.0 gilt. Ich sprach vorhin von einer Konvergenzphase – denn das wird sicher nicht von heute auf morgen gehen. Hier müssen alle Beteiligten gehört und ein realistisches Szenario gesetzlich verankert werden.
Nötige Ausgabensteigerungen für mehr Personal und eine angemessene Bezahlung in der stationären Pflege führen aktuell dazu, dass sich die Eigenbeiträge der Bewohner*innen erhöhen. Wie wollen Sie verhindern, dass immer mehr pflegebedürftige Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sind, weil sie oder ihre Angehörigen sich die Eigenbeiträge nicht mehr leisten können?
Ja, das ist ein Problem. Aber gestatten Sie mir ein, zwei Vorbemerkungen. Die Pflegeversicherung ist seinerzeit als Teilleistungsversicherung an den Start gegangen und deswegen ist der Beitragssatz im Vergleich zur Krankenversicherung auch deutlich geringer. Das führt aber dazu, dass – wenn die Leistungsbeträge der Pflegeversicherung nicht reichen – eigenes Vermögen zur eigenen Pflege eingesetzt werden muss. Zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen die Kinder noch ihr Vermögen für ihre pflegebedürftigen Eltern einsetzen mussten. Der Gesetzgeber hat den sogenannten Elternunterhalt inzwischen so geregelt, dass Kinder so gut wie nie vom Sozialhilfeträger finanziell in Regress genommen werden. Also eigenes Vermögen für die eigene Pflege.
Allerdings möchte ich auch mal die Länder in die Pflicht nehmen. Die sollen nämlich nach geltendem Recht sämtliche Investitionskosten übernehmen – das sind mehrere Hundert Euro pro Monat pro Pflegebedürftigen. Damit wäre schon vielen geholfen. Hier werden die meisten Länder ihren Verpflichtungen nicht gerecht.
Immerhin hat der Gesetzgeber eine neue Zuschussregelung zum 1. Januar dieses Jahres verabschiedet, mit Zuschüssen zu den pflegebedingten Kosten, die sich mit zunehmender Wohndauer erhöhen. Eigentlich eine gute Sache. Allerdings höre ich von Heimbewohnern, dass der Zuschuss von bereits stattgefundenen Preissteigerungen schon wieder neutralisiert wird.
Darum hat sich ja die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgenommen, dass die Eigenanteile begrenzt und planbar gemacht werden und die Wirkung der Zuschussreglung deshalb beobachtet und geprüft werden soll. Weitere ganz konkrete Schritte stehen auf der Agenda: Wie die, dass die medizinische Behandlungspflege von der Krankenkasse bezahlt werden soll – so, wie bei häuslicher Pflege. Die Ausbildungskosten sollen ebenfalls aus den Heimentgelten herausgenommen werden. Insgesamt wäre so eine weitere Entlastung von etwa 400 Euro pro Monat möglich, die dann – auch das gehört zur Wahrheit – anders finanziert werden müsste, zum Beispiel über Steuern oder höhere Beiträge.
Und ja – am Ende gibt es immer noch die Hilfe zur Pflege. Niemand muss also befürchten, sich die vollstationäre Pflege nicht leisten zu können. Hier habe ich den Barbetrag im Blick, also eine Art Taschengeld, das den Bewohnern zugestanden wird. Der ist meiner Meinung nach mit 121 Euro im Monat viel zu niedrig und muss deutlich angepasst werden. Denn davon müssen nicht nur persönliche Dinge bestritten werden, sondern auch all das, was die Kranken- oder Pflegekasse nicht bezahlt, zum Beispiel verschreibungsfreie Medikamente oder Fußpflege.
Wie stehen Sie zum ver.di-Konzept einer Solidarischen Pflegegarantie, bei der alle Einkommensarten in die Finanzierung der Pflegeversicherung einbezogen werden und diese alle pflegebedingten Kosten abdeckt?
Den Gedanken finde ich als Sozialdemokratin ganz charmant. Als Pflegebevollmächtigte schaue ich in den Koalitionsvertrag und finde einen Prüfauftrag zur Pflege-Vollversicherung. Da können sicherlich diese Gedanken aufgegriffen und weiterentwickelt werden.
Einfach wird das sicher nicht. Denn mit der bisherigen Ermöglichung der Gewinnerzielung muss man alle möglichen Auswirkungen einer Vollversicherung bedenken. Ich könnte mir vorstellen, dass weitere Vorgaben erforderlich wären, wo Gewinne ermöglicht werden und wie hoch diese sein dürfen. Wenn man sich zudem am Pflegebudget für Krankenhäuser orientiert, wo Personalkosten nur noch ein »durchlaufender Posten« sind, wären Gewinne für Pflegeeinrichtungen dann vorrangig bei Zusatzleistungen und Komfort, also bei der Unterkunft und Verpflegung möglich.
Finanzinvestoren haben die Altenpflege als lohnendes Investitionsfeld entdeckt. Fast die Hälfte der Pflegeeinrichtungen ist im Besitz kommerzieller Träger, oft großer Konzerne. Sehen Sie das als Problem oder freuen Sie sich über die »Trägervielfalt«?
Ich freue mich tatsächlich über die vielen Anbieter. Ohne private Träger, meist Familienbetriebe, geht es gar nicht. Aber derzeit gibt es auf dem »Pflegemarkt« schon Entwicklungen, die wir uns ganz genau anschauen müssen. Richtig ist auch, dass wir nicht genügend Pflegeplätze haben. Von fehlenden Tagespflege- und Kurzzeitpflegeplätzen ganz zu schweigen. Wenn mir der Exkurs erlaubt ist: Insgesamt brauchen wir deutlich mehr und auch deutlich differenziertere Angebote. Ich kann zum Beispiel einen schwer mehrfach behinderten, jungen Menschen nicht guten Gewissens in eine Tagespflegeeinrichtung bringen, die sich auf demenziell Erkrankte spezialisiert hat. Da wären alle überfordert und unglücklich. Hier bräuchte es das Entlastungsbudget, das in solchen Fällen für eine sinnvolle Alternative einsatzfähig sein muss. Auch das steht im Koalitionsvertrag und ich hoffe, dass es rasch kommt.
Wie kann die Politik dafür sorgen, dass in der Altenpflege immer die bestmögliche Versorgung im Mittelpunkt steht, nicht kurzfristige Profitmaximierung?
Dass Einrichtungsträger Gewinne erwirtschaften können, finde ich erstmal nicht verwerflich. Wichtiger ist doch, dass sie es nicht zulasten des Personals und damit zulasten der Qualität erwirtschaften, also absichtlich zu wenig Personal beschäftigen oder Hungerlöhne zahlen. Deshalb begrüße ich den eingeschlagenen Weg verbindlicher Personalschlüssel und der Pflicht zur tariflichen Bezahlung. Wer sich nicht daran hält, darf dann aber auch nicht gedeckt, sondern muss aus dem System entfernt werden. Im Übrigen sind ja die Kosten mit den Kassen zu verhandeln. Ich glaube, dass sich dabei die Kassen ihrer Verantwortung sehr bewusst sind.
Das Bundesarbeitsgericht hat bestätigt, dass Arbeitnehmerrechte auch für ausländische Kolleginnen gelten, die bei pflegebedürftigen Menschen in Privathaushalten arbeiten. Doch in der Praxis werden Arbeitsschutzgesetze systematisch gebrochen. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: »Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.« Was ist geplant?
Ich danke Ihnen für diese Frage. Das Thema ist mir ganz wichtig. Hier hat sich in den letzten Jahren mit den zig Vermittlungsagenturen ein Markt entwickelt, der eine Versorgungsalternative anpreist, die nach deutschem Recht kaum realisierbar ist. Das Bundesarbeitsgericht hat bestätigt, wovon viele ohnehin ausgegangen sind: Der Mindestlohn gilt – auch für Bereitschaftszeiten. Das Problem ist, dass die Verträge der Betreuungskräfte oft nicht die Realität abbilden. Da steht dann eine Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche drin, für die auch Mindestlohn fällig wird, aber faktisch sind sie im ständigen Bereitschaftsdienst, 24/7.
Ich glaube aber, dass das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu dem Auftrag im Koalitionsvertrag geführt hat, eine rechtssichere Grundlage für die Familien zu schaffen. Aus meiner Sicht sind nun mehrere Ressorts der Bundesregierung angesprochen – allen voran das Arbeitsministerium wegen der Arbeitnehmerschutzgesetze, aber auch das Finanzministerium, das für die Schwarzarbeit zuständig ist. Ich habe mich darum bereits an den Bundeskanzler gewandt. Mein Wunsch war es, dass das Bundeskanzleramt die Federführung übernimmt und bis zum Ende der Legislatur eine Lösung gefunden wird, die weder prekäre Arbeitsbedingungen toleriert noch bestehende Pflegesettings zerstört.