Es muss Schluss sein mit dem »Flickenteppich« unterschiedlicher Personalstandards in der stationären Pflege. In diesem Punkt waren sich alle Bundestagsabgeordneten einig, die am Donnerstag (7. November 2019) in Berlin auf Einladung von ver.di über das von den Gesundheitswissenschaftlern Stefan Greß und Klaus Stegmüller von der Hochschule Fulda erstellte Gutachten zur Umsetzung und Implementierung von Personalstandards in der Langzeitpflege diskutierten.
»Der Bedarf ist überall gleich groß«, begründete die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Pia Zimmermann, die Forderungen nach bundesweit einheitlichen Personalvorgaben. Derzeit gibt es in den Bundesländern ganz unterschiedliche Regelungen, die zudem wenig verbindlich sind. Der Vertreter der Unionsfraktion, Erich Irlstorfer (CSU), will das ebenfalls verändern. Er zeigte sich optimistisch, dass auch die Bundesländer an einheitlichen Regelungen interessiert seien. Allerdings haben diese in der »Konzertierten Aktion Pflege« eine Einigung in der Frage kürzlich noch verhindert.
Die SPD-Politikerin Heike Baehrens nannte es »Irrsinn, wenn 16 Mal in Deutschland über Personalstandards verhandelt wird – davon müssen wir wegkommen«. Die von der Großen Koalition beauftragte Entwicklung und Erprobung eines Instruments zur Personalbemessung bis Mitte 2020 ziele darauf ab, fachlich begründete Personalstandards zu entwickeln, die dann bundesweit umgesetzt werden sollten. Studienautor Stefan Greß hatte zuvor allerdings darauf hingewiesen, dass die Beauftragung zur Entwicklung des Verfahrens zwar sehr positiv sei. Dass es dazu gekommen ist, sei auch das Verdienst von ver.di. »Was aber immer noch fehlt, ist die Festlegung, ob und wie dieses Verfahren in den Bundesländern anzuwenden ist.« Er befürchte, dass in landesspezifischen Regelungen von den Vorgaben nach unten abgewichen werden könnte. Dabei gebe es für regional unterschiedliche Personalbesetzungen in den Pflegeheimen »keine sachliche Rechtfertigung«. Für die Umsetzung der Personalstandards forderte der Wissenschaftler erstens öffentliche Transparenz darüber, inwiefern die Vorgaben in den einzelnen Einrichtungen eingehalten werden. Zweitens müssten bei dauerhaften Verstößen Sanktionen folgen und drittens sollten die Überwachung und Sanktionierung nach Greß´ Ansicht in öffentlicher Hand liegen.
Die Ergebnisse des von dem Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang entwickelten Gutachtens zur Personalbemessung sind noch nicht veröffentlicht. Klar ist aber allen Beteiligten zufolge bereits, dass sich die Personalausstattung danach deutlich verbessern muss. »Die Pflege muss attraktiver werden und dafür braucht es mehr Personal, sowohl bei Assistenz- als auch bei Fachkräften«, erklärte Sylvia Bühler, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig ist. Zudem müsse sich die Bezahlung verbessern, weil insbesondere kommerzielle Pflegeheimbetreiber die Geduld ihrer Beschäftigten ausnutzten und Tarifverträge verhinderten. Deshalb verhandelt die Gewerkschaft derzeit mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) über einen Tarifvertrag, der auf die gesamte Altenpflege erstreckt werden soll. »Das ist nicht das tarifpolitische Projekt zur Aufwertung der Altenpflege«, stellte Bühler klar. »Wir stützen damit nur von unten ab, um Ausbeutung zu verhindern.« Die Aufwertung dieser Berufe bleibe eine zentrale gewerkschaftliche Aufgabe.
Dass all das zu höheren Ausgaben für Pflege führen wird, war in der Berliner Diskussionsrunde Konsens. Professor Greß verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die öffentlichen Ausgaben für Pflege in Deutschland im internationalen Vergleich eher niedrig seien – sowohl in Bezug auf die Pro-Kopf-Ausgaben als auch gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Der Wissenschaftler plädierte zum einen dafür, die Eigenanteile der Bewohner*innen in stationären Pflegeeinrichtungen zu deckeln. »Schließlich ist die Pflegeversicherung eigentlich mit dem Versprechen gestartet, dass die pflegebedingten Kosten vollständig abgedeckt werden.«
Zum anderen forderte Greß, das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Pflegeversicherung zu hinterfragen. »Die Zusammenführung beider Systeme oder zumindest ein Finanzausgleich würden erhebliche Mittel für zusätzliche Pflegestellen und eine bessere Vergütung freisetzen«, betonte er. Hintergrund ist die deutlich günstigere Mitgliederstruktur in der Privatversicherung in Bezug auf Alter, Krankheiten und Einkommen, die diese finanziell weitaus besser dastehen lässt. Heike Baehrens von der SPD rechnete in diesem Zusammenhang vor, dass die private Pflegeversicherung rund 34 Milliarden Euro »auf der hohen Kante« habe, pro Jahr aber nur Leistungen von etwa 1,1 Milliarden Euro bezahle. Es dürfe nicht sein, dass hier so viel Geld gehortet werde, während es eine große Herausforderung sei, für die 90 Prozent gesetzlich Versicherten eine gute Versorgung sicherzustellen.
Die Sozialdemokratin begrüßte die neue Initiative der Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) zur Deckelung der Eigenanteile pflegebedürftiger Menschen. Am 11. November sollte es hierzu ein Gespräch von Ländervertreter*innen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geben. Sie sei »zuversichtlich, dass wir uns da in eine solche Richtung bewegen können«, formulierte Baehrens. Während sich die Linke-Politikerin Zimmermann sowohl für eine »solidarische Pflegevollversicherung« aussprach, in die alle Menschen entsprechend ihres Einkommens einzahlten, als auch für »die sofortige Deckelung und Abschaffung der Eigenbeiträge«, sagte CSU-Mann Irlstorfer: »Ich bin dafür, dass jeder Mensch auch Eigenverantwortung trägt und bei selbst- oder fremdverschuldeter Pflegebedürftigkeit einen angemessenen Eigenanteil bezahlt.« Arbeit dürfe sich durch die Erhöhung der Sozialabgaben nicht verteuern, betonte der Sprecher der Unionsfraktion. Zugleich sei klar, dass es angesichts steigender Eigenanteile Veränderungen geben müsse – allerdings innerhalb des bestehenden Systems, ohne eine grundlegende Umgestaltung.
Die Altenpflegerin Viola Bute zeigte sich angesichts der Debatte und der bisherigen realen Veränderungen desillusioniert. »An der Basis kommt immer noch zu wenig an«, kritisierte die Betriebsrätin des Hamburger Pflegeheimbetreibers Pflegen und Wohnen. »Immer noch sind zum Teil zwei Pflegekräfte für 60 Bewohner*innen zuständig, immer noch sind Pflegekräfte nachts allein auf der Station. Die Leute sind am Ende ihrer Kräfte – und kommen trotzdem jeden Tag zur Arbeit, weil sie ihren Beruf lieben.« Den politisch Verantwortlichen warf die examinierte Pflegerin vor, »in den letzten zehn Jahren geschlafen« zu haben. Die demografische Entwicklung und der Personalmangel seien schließlich schon sehr lange bekannt. »Die Politik muss jetzt schleunigst aktiv werden«, forderte Bute.
Der Betriebsratsvorsitzende des AWO-Seniorenzentrums Schwafheim im nordrhein-westfälischen Moers, Hajo Schneider, sagte auf entsprechende Vorwürfe des CSU-Politikers Irlstorfer: »Wir machen den Beruf nicht schlecht, die Rahmenbedingungen sind schlecht. Wenn sich diese verbessern, finden sich auch mehr Menschen, die diesen tollen Beruf ausüben wollen.« Die mit Einführung der Pflegeversicherung vor etwa 25 Jahren erfolgte Öffnung der Altenpflege für private Profitinteressen nannte der Gewerkschafter »den größten politischen Fehler in diesem Land«.
Die Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand, Grit Genster, stellte zum Abschluss der Diskussionsrunde klar, dass ver.di im Dialog bleiben und weiter Druck machen wird. Den Unionsvertreter Irlstorfer lud sie zu einer gemeinsamen Diskussion mit der ver.di-Bundesfachkommission Altenpflege ein, der das Angebot annahm. Auch in den Betrieben und in der Öffentlichkeit wird ver.di weiter für bessere Bedingungen in der Altenpflege streiten – das nächste Mal beim bundesweiten Aktionstag am 20. November.
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