Haben die diversen Reformen der vergangenen Jahre die Situation in der Altenpflege verbessert? Diese Frage stellte Matthias Gruß, der bei ver.di für die Altenpflege zuständig ist, zu Beginn einer zweitägigen Fachtagung am Donnerstag (23. November 2023) in Berlin. Die Antworten der rund 80 Interessenvertreter*innen aus der stationären und ambulanten Pflege waren in diesem Punkt eindeutig: Die grundlegenden Probleme von Überlastung und Unterfinanzierung sind weiterhin ungelöst. »Gefühlt kommt von all den Reformen nichts an«, berichtete die Vorsitzende der Mitarbeitervertretung im Pflegeheim Sonnenhof der Evangelischen Heimstiftung Langenau, Ilka Steck. »In meinem Wohnbereich haben wir weniger Leute als vor vier Jahren. Man rennt und rennt und rennt und sieht kein Licht am Ende des Tunnels.«
Auch Professor Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg zeichnete ein düsteres Bild der Lage – und stellte den Reformbemühungen diverser Bundesregierungen ein vernichtendes Zeugnis aus. »In 25 Jahren Pflegeversicherung hatten wir 24 Reformgesetze, aber – mit Ausnahme der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs 2017 – keine grundlegende Reform«, bilanzierte der Leiter des Instituts AGP Sozialforschung und des Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung. Auch die aktuelle Bundesregierung habe sich zwar in ihrem Koalitionsvertrag viel vorgenommen, davon aber kaum etwas umgesetzt. Von der versprochenen bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung »kann man besonders in der Langzeitpflege überhaupt nicht sprechen«. Innerhalb Deutschlands sei die Versorgungslage regional extrem unterschiedlich.
Der Rechtswissenschaftler führte die gravierenden Probleme unter anderem darauf zurück, dass die Pflege in den vergangenen Jahrzehnten neoliberalen Steuerungsmechanismen überlassen worden sei. »Dabei sind Gesundheit und Pflege eigentlich keine handelbaren Güter.« In der Corona-Zeit habe der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) »die Versicherungsgelder leer geräumt«, um damit eigentlich staatliche Aufgaben in der Pandemie zu finanzieren. Dies und andere Ausgabensteigerungen hätten dazu beigetragen, dass die Zahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung nur noch bis zum Ende der Legislaturperiode in zwei Jahren gesichert sei. Die Pflegeversicherung müsse finanziell »auf neue Füße gestellt werden, sonst fahren wir gegen die Wand«, warnte Klie.
Er betonte die »gesellschaftliche Sprengkraft« des Themas. »In der Bevölkerung sehen 94 Prozent den Mangel an Pflegepersonal als das größte Problem – mehr als die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr.« 86 Prozent meinen, die politisch Verantwortlichen müssten in dieser Frage mehr tun. Der Sozialexperte zeigte sich allerdings pessimistisch, dass größere Reformen in der aktuellen politischen Konstellation möglich sind. Blieben sie aus, könne dies auch zu einem »Demokratieproblem« werden.
Während Klie davon ausgeht, dass die Zahl der Pflegekräfte nicht zunehmen wird, plädierte die Altenpflegerin Ilka Steck dafür, die Potenziale für mehr Beschäftigung zu nutzen. »Wir müssen die Menschen bewegen, den Pflegeberuf zu ergreifen, dazubleiben und wir müssen versuchen, ausgeschiedene Pflegekräfte zurückzugewinnen. Da müssen alle Anstrengungen hin.« Die Voraussetzung dafür seien vor allem bessere Arbeitsbedingungen, so die Sprecherin der ver.di-Bundesfachkommission Altenpflege mit Verweis auf die Studie »Ich pflege wieder, wenn…«, die ein Potenzial von bis zu 583.000 zusätzlichen Pflegefachkräften durch Berufsrückkehrer*innen errechnet.
Der Betriebsratsvorsitzende des AWO-Seniorenzentrums Schwafheim, Hajo Schneider, meinte in der Debatte, die Zuwanderung könne eine große Chance für die Pflege sein. Migrantische Pflegekräfte machten bereits einen bedeutenden Teil der Belegschaften in Pflegeeinrichtungen aus. Andere Teilnehmende betonten hingegen die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn ausländische Kolleg*innen nicht richtig integriert werden. Auch die Rolle der Leasingfirmen wurde in vielen Redebeiträgen kritisch hinterfragt. Diese spielten eine »fatale Rolle«, betonte eine Pflegehelferin von Vitanas. Während das Stammpersonal immer weniger werde, wachse die Zahl der Leihbeschäftigten. In den Einrichtungen gehe es zu »wie auf einem Bahnhof«. Das hemme auch die Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls in den Belegschaften und damit die Möglichkeiten, »sich gemeinsam stark zu machen«.
Professor Klie verwies darauf, dass der Anteil der Leihbeschäftigten in der Pflege mit zwei Prozent weiterhin gering ist. Zugleich betonte er: »Die Leiharbeit zerstört die moralische Grundlage des Pflegeberufs.« Während die Teilnehmenden in der Kritik an der Leiharbeit einig waren, gab es unterschiedliche Meinungen darüber, ob ein Verbot sinnvoll ist. Die Flucht in die Leiharbeit zeige die Krise des Systems, erklärte die Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand, Grit Genster. Die Antwort darauf müssten bessere Arbeitsbedingungen für die Stammbeschäftigten sein, nicht das Verbot von Leiharbeit. Viele sähen darin die einzige Möglichkeit, individuell bessere Arbeitsbedingungen wie verlässliche Dienstpläne zu erreichen. Doch auch für die Stammkräfte müssten sich die Bedingungen verbessern, forderte Genster. Und das gehe besser, wenn sich die Beschäftigten gewerkschaftlich organisieren.
Es gelte, weiter Druck zu machen für eine bedarfsgerechte und bundesweit einheitliche Personalausstattung, für die flächendeckende Bezahlung nach maßgeblichen Tarifverträgen sowie die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu einer Solidarischen Pflegegarantie, die von allen Gruppen entsprechend ihres Einkommens finanziert wird und alle pflegebedingten Kosten abdeckt. Mit Verweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse, das ein Milliardenloch in den Bundeshaushalt gerissen hat, erklärte Genster: »Druck zu machen ist jetzt umso wichtiger. Wir stehen vor einer neuen Verteilungsauseinandersetzung.«
Teil dessen sei es, die Renditeorientierung im Gesundheitswesen zurückzudrängen. »Wir brauchen zumindest einen Vorrang für kommunale und freigemeinnützige Träger in der Pflege. Und die öffentliche Hand braucht das nötige Geld«, so die Gewerkschafterin. Die Voraussetzung dafür sei wiederum eine grundlegende Reform bzw. die Abschaffung der Schuldenbremse. »Die Schuldenbremse ist eine Zukunftsbremse«, betonte Genster. »Wir brauchen mehr öffentliche Investitionen – auch in die Infrastruktur der Pflege.« Dafür werde sich ver.di weiter einsetzen.
Hat sich die Situation in der stationären und ambulanten Pflege durch die Reformen der vergangenen Jahre verbessert? Wir haben Teilnehmende der ver.di-Fachtagung Altenpflege gefragt, wie sie die Situation wahrnehmen.
»Die Politik hat in den letzten Jahren viel versprochen. Doch bei uns in den Einrichtungen ist kaum etwas angekommen. Zum Beispiel Spahns Programm von 20.000 neuen Stellen: Da waren die Hürden so hoch, dass die Mittel kaum abgerufen wurden. So ist es jedes Mal: Man verkündet tolle Verbesserungen, lässt sich aber Hintertüren auf und am Ende ändert sich nichts. Jetzt soll die Personalbemessung kommen. Rechnerisch hätten wir in der Einrichtung dadurch acht Vollzeitkräfte mehr. Das würde sehr helfen. Aber ob sie auch kommen? Zugleich gibt es eine große Verunsicherung bei den Hilfskräften, die bestimmte Dinge nicht mehr machen sollen. Die Einführung der Personalbemessung wird bei uns jetzt von einem Institut begleitet. Und wir als Betriebsrat tun, was wir können, um im Sinne der Kolleginnen und Kollegen mitzugestalten.«
»Wir haben sehr viele fremdsprachliche Beschäftigte. Das erschwert die Kommunikation, sowohl unter den Kolleginnen und Kollegen als auch mit den pflegebedürftigen Menschen. Die dringend benötigten Sprachkurse werden jedoch nicht oder nur sehr unzureichend finanziert. Es bräuchte auch mehr Unterstützung beim Umgang mit Behörden, wo es immer wieder Probleme mit der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis gibt. Integration kostet eben Ressourcen, die aber nicht zur Verfügung gestellt werden. Ich bin seit 22 Jahren im Beruf und habe das Gefühl, immer weniger das tun zu können, weshalb ich eigentlich in die Pflege gegangen bin: Mich um Menschen zu kümmern, auch mal ein Gespräch führen zu können. Stattdessen verbringt man sehr viel Zeit mit Dokumentation. Ich bin doch nicht Pflegerin geworden, um als Verwaltungskraft zu arbeiten.«
»Die Pflege ist ein phantastischer Beruf, doch die Bedingungen drumherum stimmen nicht. Die Studie „Ich pflege wieder, wenn…“ zeigt, was nötig ist, um Pflegekräfte zurückzugewinnen und zu halten. Vor allem sind das bessere Arbeitsbedingungen, verlässliche Dienstpläne, insgesamt mehr Wertschätzung. Und mehr Zeit für die pflegebedürftigen Menschen. Das gilt sowohl für die stationäre als auch die ambulante Pflege. Im häuslichen Bereich habe ich 127 Sekunden, um einen Stützstrumpf anzuziehen. Wie soll das gehen? Natürlich ist auch die Bezahlung wichtig. Bei uns müssen viele einen Zweitjob machen, um über die Runden zu kommen. Und am Ende eines langen Arbeitslebens droht vielen die Altersarmut. Vor allem Hilfskräfte arbeiten in der Rente weiter, damit sie sich mal was leisten oder in den Urlaub fahren können. So kann es nicht weitergehen.«
Welche konkreten Möglichkeiten haben die betrieblichen Interessenvertretungen in der Altenpflege, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen? Diese Frage stand im Fokus der insgesamt sechs Foren, die bei der ver.di-Fachtagung teilweise parallel stattfanden. In diesen tauschten sich die Teilnehmenden über ihre Erfahrungen aus und diskutierten Handlungsmöglichkeiten. In Forum 1 berichtete der Berliner Rechtsanwalt Jörg Ritter-Stütz über die neuere Rechtsprechung, die aus Sicht der Beschäftigten in der Altenpflege einige positive Urteile beinhaltet. Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen zog in Forum 2 eine erste Bilanz der seit 2022 geltenden »Tariflohnpflicht«. Diese hat, so die vorläufige Einschätzung, zwar in einigen Einrichtungen zu Lohnerhöhungen geführt, nicht aber zur angekündigten Stärkung der Tarifbindung. Forum 3 beschäftigte sich mit der Mitbestimmung bei der Auswahl und Einführung von Software. Julia Bringmann und Benjamin-Henry Petersen von der Humboldt Universität stellten eine Arbeitshilfe vor, die die Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen bei der Einführung von Software unterstützt. In Forum 4, das sich mit der Mitbestimmung in Sachen Personalbemessung befasste, wurde deutlich, dass dem positiven Grundgedanken, mehr Personal in die Einrichtungen zu holen, »ganz viele Schwierigkeiten in der Umsetzung« entgegenstehen. Der Moderator und Krankenpfleger Matthias Venz betonte die Aufgabe der Betriebsräte bzw. Mitarbeitervertretungen, »hier anzuschieben, um tatsächliche Verbesserungen zu erreichen«. In Forum 5 informierte die Frankfurter Rechtsanwältin Lisa Politycki über die Dienstplangestaltung im Rahmen der neuen Personalbemessung. Letztere sei »eine massive Enttäuschung«, meinte die Nürnberger Altenpflegerin Tatjana Sambale. Umso wichtiger sei es für die betrieblichen Interessenvertretungen, aktiv zu werden und ihre »harten Mitbestimmungsrechte« in diesen Fragen zu nutzen. In Forum 6 diskutierte Doreen Lindner von ver.di Bildung + Beratung verschiedene Varianten des Ausfallmanagements sowie die Strategien und Beteiligungsrechte von Betriebsräten und Mitarbeitervertretungen. Matthias Gruß von ver.di verwies in der Abschlussdiskussion der Foren auf das Seminarangebot der Gewerkschaft, das eine tiefergehende Beschäftigung mit all diesen Themen ermöglicht.