Infopost Altenpflege: Seit September 2022 gilt für Pflegeeinrichtungen die sogenannte Tariflohnpflicht. Bedeutet das, dass nun überall in der Pflege Tariflöhne gezahlt werden?
Michaela Evans-Borchers: Die Pflegeeinrichtungen haben drei Optionen: die Bindung an einen Tarifvertrag oder eine kirchliche Arbeitsrechtsregelung, die sogenannte Tariforientierung bei der Bezahlung oder die Entlohnung nach dem »regional üblichen Entlohnungsniveau«. Der Begriff Tariflohnpflicht führt also etwas in die Irre: Es gibt keine Verpflichtung, Tarifverträge vollständig anzuwenden. Bei der Tariforientierung müssen nur bestimmte tarifvertragliche Entgeltbestandteile berücksichtigt werden. Beim »regional üblichen Entlohnungsniveau« muss die Bezahlung in den Beschäftigten- bzw. Qualifikationsgruppen nur dem Durchschnitt der regionalen Tarifverträge und kirchlichen Regelungen entsprechen, zudem dürfen die pflegetypischen Zuschläge nicht unterschritten werden. Zu sagen, jetzt wird überall nach Tarif bezahlt, ist also nicht richtig.
Sie haben für Nordrhein-Westfalen untersucht, wie sich die Vorgaben auswirken. Was haben Sie herausgefunden?
Julia Lenzen: Für tarifgebundene Einrichtungen hat sich eigentlich nichts geändert – außer, dass sie die Daten liefern müssen, von denen tariflose Betriebe profitieren. Bei Letzteren hat sich die Entlohnung tatsächlich verbessert, auch wenn wir den Effekt des Gesetzes nicht genau quantifizieren können. Ein Indikator sind jedoch Personalkostensteigerungen zwischen 30 und 40 Prozent bei Pflegeeinrichtungen, die weder tarifgebunden sind noch zuvor einen Tarifvertrag anwendeten. Es profitieren allerdings nicht alle Beschäftigtengruppen von Lohnsteigerungen gleichermaßen, denn die Vorgaben greifen nur für Beschäftigte, die überwiegend in der Pflege oder Betreuung tätig sind. Von diesen haben Fachkräfte stärker profitiert als Un- und Angelernte. Wozu die Regelung nicht führt, ist eine höhere Tarifbindung. Die wenigsten Arbeitgeber haben deswegen neue Tarifverträge abgeschlossen.
Michaela Evans-Borchers: Das »regional übliche Entlohnungsniveau« basiert auf den Meldungen der tarifgebundenen Unternehmen. Es ist ein Durchschnittswert. Das heißt: Wenn ich das regional übliche Lohnniveau anwende, liege ich über dem günstigsten Tarifvertrag in der betreffenden Region. Wie soll das ein Anreiz zur Erhöhung der Tarifbindung sein? Es gibt bei der Tarifbindung daher keinen Sprung. Dabei wäre das besonders bei kommerziellen Trägern und im ambulanten Bereich nötig.
Warum ist die Erhöhung der Tarifbindung so wichtig?
Julia Lenzen: Wirkliche Verlässlichkeit gibt es nur mit unmittelbarer Bindung an einen Tarifvertrag. Nur dann können Beschäftigte sicher sein, dass sie von allen Zuschlägen und anderen Bestandteilen profitieren. Denn Tarifverträge regeln nicht nur die Entlohnung, sondern auch Arbeitszeiten, Urlaub, Weiterbildung und vieles mehr. Studien zeigen, dass es neben einer angemessenen Bezahlung auch weitere gute Arbeitsbedingungen braucht, um die Pflege attraktiv zu machen, Menschen zur Rückkehr in den Beruf zu bewegen oder im Beruf zu halten.
Was ist mit den Beschäftigten in Hauswirtschaft, Verwaltung, Reinigung und anderen Bereichen, die nicht unter die »Tariflohnpflicht« fallen?
Michaela Evans-Borchers: Sie sind auf Basis der Regelungen zunächst außen vor und haben nichts davon, obwohl natürlich auch sie für eine gute Versorgung gebraucht werden. Das betriebliche Lohngefüge kann durch die Regelungen unter Druck geraten. Wenn Arbeitgeber versuchen, die Gesamtkosten stabil zu halten, können Lohnerhöhungen für die einen zu geringeren Lohnzuwächsen für die anderen führen. Für das Betriebsklima ist so etwas fatal.
Können einzelne Beschäftigte überhaupt feststellen, ob sie korrekt bezahlt werden?
Julia Lenzen: Das ist eine große Herausforderung. Gerade dort, wo das »regional übliche Entlohnungsniveau« angewendet wird, ist das für die Beschäftigten nicht so leicht überprüfbar. Sie müssten sich jedes Jahr die jeweiligen Tabellen des regional üblichen Niveaus anschauen. Vor allem aber: Da es nur im Durchschnitt der jeweiligen Beschäftigten- bzw. Qualifikationsgruppe eingehalten werden muss, können die Beschäftigten keinen individuellen Anspruch daraus ableiten. Arbeitgeber können Beschäftigte derselben Berufsgruppe ganz unterschiedlich bezahlen, den einen mehr, den anderen weniger als den Durchschnitt geben. Das ist ein Grund, warum der allgemeinverbindliche Pflegemindestlohn als definierte Lohnuntergrenze keineswegs überflüssig wird.
Ein Ziel war, die Bezahlung in der Altenpflege auf das höhere Niveau in den Krankenhäusern anzuheben. Wird das erreicht?
Michaela Evans-Borchers: Das Lohnniveau in der Altenpflege steigt, doch das gilt auch für die Krankenpflege. Weiterhin verdienen Fachkräfte in der Altenpflege rund neun Prozent weniger als im Krankenhaus, bei Hilfskräften liegt der Medianlohn sogar zwölf Prozent niedriger. Ein Hintergrund sind die unterschiedlichen Finanzierungssysteme: Anders als die Krankenversicherung deckt die Pflegeversicherung nur einen Teil der pflegebedingten Kosten ab. Dadurch schlagen Lohnerhöhungen unmittelbar auf die Eigenanteile der Bewohnerinnen und Bewohner durch, was die Lohnentwicklung hemmt.
In der Altenpflege selbst sind die Lohnunterschiede zwischen den Regionen traditionell groß. Haben die neuen Regeln daran etwas geändert?
Julia Lenzen: Vertiefend haben wir nur Nordrhein-Westfalen untersucht. Aber die Tendenz ist klar: In Regionen mit traditionell niedriger Tarifbindung entscheiden sich mehr Einrichtungen für das »regional übliche Entlohnungsniveau«. Ein Risiko ist also, dass die regionalen Unterschiede eher fortgeschrieben werden.
Welche Auswirkungen der »Tariflohnpflicht« konnten Sie noch feststellen?
Michaela Evans-Borchers: Die tarifgebundenen Einrichtungen haben bei den Meldungen einen hohen Aufwand, wovon die tariflosen Träger profitieren. Das System kann darüber hinaus auch die Pflegesatzverhandlungen mit den Kassen und Trägern der Sozialhilfe komplizierter machen, weshalb sich diese oft länger hinziehen. Das bedeutet, dass Träger in Vorleistung gehen und auf eine Refinanzierung warten müssen. Das ist durchaus ein Faktor, der zu Insolvenzen beitragen kann.
Interview: Daniel Behruzi