In einem waren sich die Teilnehmenden und Referent*innen der ver.di-Fachtagung Altenpflege am 19. und 20. September 2024 in Berlin einig: Gute Pflege und gute Arbeitsbedingungen gehören zusammen. Doch trotz etlicher neuer Gesetze ist eine grundlegende Verbesserung der Bedingungen, unter denen Beschäftigte in der ambulanten und stationären Pflege tätig sind, bislang nicht festzustellen. Vielmehr machten etliche Beiträge der rund 80 anwesenden Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter*innen deutlich, wie vielfältig und groß die Probleme sind – ob bei der generalistischen Pflegeausbildung, der Ausdifferenzierung von Pflegetätigkeiten, der Digitalisierung oder der Integration ausländischer Pflegekräfte.
»Lange wurde es politisch versäumt, etwas für die Pflege zu tun«, gab die Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium, Heike Hoffer, bei der Podiumsdiskussion zu bedenken. »Jetzt wird versucht, in kurzer Zeit viel aufzuholen.« Die Bundesregierung habe entsprechend viele Neuregelungen beschlossen oder auf den Weg gebracht, deren Wirkung zunächst analysiert werden müsse. So zum Beispiel das von dem Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang entwickelte Verfahren zur Personalbemessung. Dieses belegt: Für eine bedarfsgerechte Versorgung müssen deutlich mehr Pflegekräfte eingesetzt werden als bislang. Um sie zu gewinnen und zu halten, braucht es attraktivere Arbeitsbedingungen, so der Tenor der Diskussion. Doch verbindliche Schritte zum Personalaufbau, der Beschäftigte entlasten würde, sind bislang nicht gesetzlich festgeschrieben.
Stattdessen wird laut Teilnehmenden in vielen Einrichtungen qualifiziertes Personal eingespart. »Es gibt nur weniger Fachkräfte, sonst hat sich durch die Personalbemessung nichts geändert«, berichtete zum Beispiel eine Betriebsrätin aus Berlin. »Bei uns ist eine Fachkraft auf zwei Etagen für 50 Bewohnerinnen und Bewohner zuständig – das machen die Leute nicht auf Dauer mit, sie wandern ab.« Verstärkt wird dieser Trend offenbar durch die generalistische Pflegeausbildung. Mehrere Interessenvertreter*innen berichteten, dass viele Auszubildende nach ihrem Examen die Pflegeheime in Richtung der Krankenhäuser verlassen.
Aus Sicht von Jörg Sponholz, der in der ver.di-Bundesfachkommission Altenpflege aktiv ist, hat das nicht nur damit zu tun, dass Pflegefachpersonen in Krankenhäusern durchschnittlich besser bezahlt werden als in der Altenpflege. Auch die starke Arbeitsteilung in den Pflegeheimen trage dazu bei. Denn wenn Fachkräfte keine Zeit mehr hätten, Menschen zu pflegen, sondern nur noch Hilfskräfte anleiten und überwachen müssten, mache das viele unzufrieden. »Das ist nicht das, warum die Menschen diesen Beruf gewählt haben. Manche flüchten deshalb ins Krankenhaus, wo sie noch an und mit Patientinnen und Patienten arbeiten.«
Der Betriebsrat aus Rheinland-Pfalz widersprach damit deutlich den Thesen des Pflegewissenschaftlers Manfred Hülsken-Giesler von der Uni Osnabrück, der für eine stärkere »Ausdifferenzierung« der Pflegeberufe warb. Der Bundesregierung attestierte der Professor, bei ihren Gesetzesinitiativen sei eine Entwicklung erkennbar – Stichworte Pflegeassistenzausbildung, duales Pflegestudium, Pflegekompetenzgesetz. Insgesamt fehle jedoch der Mut, Innovationen voranzutreiben. Deutlich machte der Wissenschaftler dies am Thema Digitalisierung: Diese werde lediglich dort umgesetzt, »wo sie ökonomisch sinnvoll ist und zur Optimierung von Arbeitsprozessen führt«. Im Kernbereich der Pflege hingegen, wo digitale Technik potenziell zur Entlastung beitragen könne, komme sie kaum zur Anwendung – »weil es sich nicht rechnet«.
In der Diskussion wurde deutlich, dass ein weiteres Thema in den Einrichtungen für viel Unruhe sorgt: Die mangelnde Integration ausländischer Arbeitskräfte. »Da läuft alles Mögliche schief«, erklärte eine Kollegin. So müsse ihre philippinische Kollegin trotz eines abgeschlossenen Studiums als Pflegehelferin arbeiten. Untergebracht sei sie in einem Zimmer mit Gemeinschaftsküche und -bad – für 680 Euro im Monat. Eine Betriebsrätin aus Baden-Württemberg berichtete von ausländischen Kolleginnen, die das Examen nicht bestanden und daraufhin sofort in ihr Heimatland zurückgeschickt wurden. »Die Integration läuft gleich Null«, kritisierte sie. Andere berichteten von positiven Initiativen, die zum Teil von den betrieblichen Interessenvertretungen angestoßen wurden, wie der Einstellung von Integrationsmanager*innen. Eine Kollegin aus Bayern betonte: »Es ist doch traurig, dass wir Pflegekräfte von woanders holen müssen, wo sie auch gebraucht werden.« Die Personalnot könne nicht durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte beseitigt werden, sondern nur durch attraktivere Arbeitsbedingungen.
ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler stellte die Entwicklungen in einen größeren Zusammenhang. Das Soziale stehe in der Gesellschaft insgesamt unter Druck. »Wir sind gefordert, lauter zu werden und klarzumachen, welchen Wert eine gute Daseinsvorsorge für die Menschen hat«, so die Gewerkschafterin. Unter dem Motto »radikal SOZIAL« trete ver.di für ein lebenswertes Leben und die Absicherung der Lebensrisiken ein. So solle die Pflegeversicherung zu einer Solidarischen Pflegegarantie weiterentwickelt werden, die alle pflegebedingten Kosten abdeckt und die solidarisch durch alle Einkommensarten finanziert wird. In ihrem Koalitionsvertrag hätten SPD, Grüne und FDP die klare Verabredung getroffen, eine grundlegende Pflegereform anzugehen. Es könne nicht sein, dass die FDP als kleinster Koalitionspartner dieses und andere wichtige Projekte weiter blockiert, kritisierte Bühler.
Die Teilnehmenden der Tagung bekräftigten dies in einer einstimmig verabschiedeten Resolution. »Wir schlagen Alarm«, heißt es darin. Die Pflegeversicherung müsse auf ein stabiles Fundament gestellt werden. »Die Sicherung guter Pflege ist eine der zentralen Zukunftsaufgaben, die endlich angegangen werden muss – jetzt!«
Die Leiterin des ver.di-Bereichs Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik, Grit Genster, betonte, neben der Politik seien auch die Arbeitgeber gefordert, die Bedingungen zu verbessern. Beschäftigte aus der Altenpflege setzen sich mit ver.di dafür ein, eine angemessene Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen per Tarifvertrag zu sichern. So berichteten bei der Fachtagung beispielsweise Kolleg*innen von Pflegen und Wohnen in Hamburg über einen neuen Tarifabschluss, mit dem unter anderem die Wochenarbeitszeit um eine Stunde verkürzt und zusätzliche freie Tage zur Entlastung vereinbart wurden. Bei der kommerziellen Pflegekette Korian hat ver.di kürzlich in zwei rheinland-pfälzischen Einrichtungen Lohnerhöhungen durchgesetzt, mit denen die Entgelte über das aktuelle Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) gehoben werden.
Im öffentlichen Dienst selbst wird ab Januar neu verhandelt. Genster betonte, wie wichtig diese Tarifrunde ist, auf die sich die Kolleg*innen kommunaler Betriebe – auch aus der Altenpflege – derzeit vorbereiten. »Der TVöD ist unsere Leitwährung und hat auf viele andere Einrichtungen und auf die Refinanzierung Auswirkungen.« Insgesamt bleibe es das Ziel, die Tarifbindung in der Altenpflege zu erhöhen. Mit der sogenannten Tariflohnpflicht, die etliche Schlupflöcher und Fehlanreize beinhalte, gelinge das allerdings nicht. ver.di könne auch nicht in allen 16.000 stationären und ebenso vielen ambulanten Einrichtungen Haus für Haus Tarifverträge im Konflikt durchsetzen. »Es braucht die Unterstützung des Gesetzgebers, um Tarifverträge auf die gesamte Altenpflege zu erstrecken«, so die Gewerkschafterin. Dafür müsse den kirchlichen Arbeitgebern ihr Vetorecht genommen werden, die die Erstreckung des bereits ausgehandelten Tarifvertrags 2021 verhindert hatten.
Mit der Bevorzugung kommerzieller Anbieter müsse Schluss sein, forderte Genster zum Abschluss der Tagung. Im Gesundheits- und Sozialwesen müssten Gewinne in die Versorgung reinvestiert und eine Orientierung der Träger am Gemeinwohl festgeschrieben werden. »Die Schuldenbremse gehört abgeschafft, Superreiche angemessen besteuert, um eine gute Daseinsvorsorge zu sichern. Das ist die Grundlage einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft.«
Die rund 80 Teilnehmenden tauschten sich auf der Fachtagung in sechs Workshops intensiv über die Themen aus, die sie als Interessenvertretungen bewegen. Hier ging es konkret darum, welche Möglichkeiten Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter*innen haben, die Bedingungen für ihre Kolleg*innen zu verbessern und gute betriebliche Regelungen zu vereinbaren. Die Verantwortlichen der Foren bringen zentrale Aspekte auf den Punkt.
»Mit der bundesweit einheitlichen Pflegeassistenz wird gerade eine neue Ausbildung geschaffen. Betriebliche Interessenvertretungen sollten sich frühzeitig vorbereiten, noch bevor die neuen Auszubildenden ab 2027 in die Betriebe kommen. Betriebs- oder Dienstvereinbarungen können Standards zur Ausbildungsqualität festschreiben, die über die gesetzlichen Regelungen hinausgehen – zum Beispiel bei Umfang und Art der Praxisanleitung. Denn nur mit guten Ausbildungsbedingungen ist die Pflege für junge Menschen attraktiv. Entscheidend dafür ist, dass genug Personal eingesetzt wird.«
»Für Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen gilt es, die zum 1. Juli 2023 in Kraft getretene, bundesweit einheitliche Personalbemessung in der stationären Altenpflege zu nutzen, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Sie erlaubt es den Einrichtungen, eine bessere Finanzierung des Personals auszuhandeln. Die betrieblichen Interessenvertretungen sollten hinterher sein, dass das auch geschieht. Am besten ist es, wenn Leitungen und Interessenvertretungen gemeinsam kreativ sind, um die Attraktivität zu erhöhen. Denn entscheidend ist, dass die Stellen auch besetzt werden und Entlastung bei den Kolleginnen und Kollegen ankommt.«
»Gewalt gegen Beschäftigte ist seit langem ein Riesen-Thema. Dennoch ist es zum Teil immer noch mit einem Tabu belegt. Nicht selten fühlen sich betroffene Beschäftigte allein gelassen. Hier haben die betrieblichen Interessenvertretungen eine ganz wichtige Rolle. Sie haben Kontakt mit den Kolleg*innen und sind zugleich im Gespräch mit der Einrichtungsleitung. Sie sollten auf Maßnahmen zur Gewaltprävention drängen. Es können kollegiale Ersthilfe, Deeskalationstrainings, Notfallpläne und vieles mehr etabliert werden. Von den Unfallkassen gibt es etliche Unterstützungsangebote, auf die betriebliche Akteure zurückgreifen können.«
»Die Gefährdungsanzeige bietet Beschäftigten die Möglichkeit, den Arbeitgeber auf gefährliche Situationen aufmerksam zu machen und sich damit auch rechtlich abzusichern. Die betrieblichen Interessenvertretungen sollten Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen dazu abschließen. Sie können zum Beispiel festschreiben, dass eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden muss, wenn zu einem bestimmten Thema vermehrt Gefährdungen angezeigt werden. Aus der Gefährdungsbeurteilung müssen Maßnahmen abgeleitet werden, mit denen der Arbeitgeber die Situation verbessert. Hier ist die Interessenvertretung in der Mitbestimmung. Sie sollte ihre Rechte konsequent im Sinne der Beschäftigten nutzen.«
»Die Tariflohnpflicht bedeutet keine Ausweitung der Tarifbindung, die unbedingt nötig wäre. Das Gesetz wirkt in den Betrieben nicht unmittelbar. Die meisten Einrichtungen nutzen die Option der sogenannten Durchschnittsbezahlung, die viele Unklarheiten und Intransparenz mit sich bringt. Die betrieblichen Interessenvertretungen haben aber die Möglichkeit, Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen zur Umsetzung zu schließen – und können sie im Konfliktfall auch vor der Einigungsstelle erzwingen. So können sie ein transparentes Entgeltsystem im Betrieb schaffen, bei dem nicht der Nasenfaktor über die Bezahlung entscheidet.«
»Der Workshop hat gezeigt, dass sich viele Interessenvertretungen beim Thema Integration stark engagieren – auch, weil da von den Arbeitgebern oft nicht allzu viel kommt. Ein Betriebsrat hat beispielsweise mitgeholfen, ein Integrationsmanagement einzurichten. In einem anderen Fall helfen Alltagslots*innen oder betriebliche Sozialarbeiter*innen den neuen Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland, sich im Betrieb, aber auch im privaten Alltag zurechtzufinden. Die Teams können die Herausforderungen oft nicht alleine kompensieren. Es braucht Standards und Unterstützung. Grundsätzlich sind gesunde Arbeitsstrukturen entscheidend, um gute Bedingungen zu schaffen – ob für hiesige oder zugewanderte Beschäftigte. Ein Mittel dafür ist die Gefährdungsbeurteilung, bei der die Interessenvertretung in der Mitbestimmung ist.«