»Wir rennen und hetzen«

    Überlastung und Erschöpfung von Beschäftigten in der Altenpflege sind allgegenwärtig. Teilnehmer*innen der ver.di-Fachtagung fordern konsequenteres Handeln der Politik.
    16.09.2022
    Fachtagung Altenpflege 2022

    Nach zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie nehmen die Überlastung und Erschöpfung von Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen dramatische Formen an. Das machten etliche Berichte von Teilnehmer*innen der ver.di-Fachtagung Altenpflege am Montag und Dienstag (12./13. September 2022) in Leipzig deutlich. Die Versprechen der politisch Verantwortlichen müssten endlich eingelöst werden, so der Tenor. Diese hätten zwar viele Maßnahmen auf den Weg gebracht. Bislang habe das aber weder zu einer substanziellen Aufwertung der Berufe noch zu Entlastung in den Einrichtungen geführt.

    »Wir rennen und hetzen«, berichtete die Altenpflegerin Ilka Steck aus Baden-Württemberg. »Lange haben wir es noch auf eigene Kosten rausgerissen, aber jetzt schaffen wir es einfach nicht mehr – die Leute sind am Ende ihrer Kräfte.« Die Betreuerin Bianka Zickler-Peuschel aus Zwickau ergänzte, viele Beschäftigte in der Altenpflege würden ihren Beruf selbst ihren Kindern nicht mehr empfehlen. »Ich liebe diesen Beruf. Aber es ist traurig zu sehen, wie Mitarbeiterinnen auf den Gängen stehen und weinen, weil sie nicht mehr können.« Zusätzlich verschärft werde die Situation durch die Abwanderung von Pflegekräften in die Krankenhäuser und in die Leiharbeit.

     
    Fachtagung Altenpflege 2022

    Der Leiter der Abteilung Pflegeversicherung und -stärkung im Bundesgesundheitsministerium, Dr. Martin Schölkopf, zeigte sich betroffen von den Berichten, betonte aber auch, die Bundesregierung habe viele Maßnahmen beschlossen, um die Situation zu verbessern. Zum Beispiel habe sie Programme für mehr Stellen aufgelegt. Allerdings seien von den 13.000 zusätzlichen Fachkraftstellen nur 3.000 besetzt, von den 20.000 zusätzlichen Hilfskraftstellen nur 4.000. »Das zeigt, wie schwer sich die Einrichtungen tun, die Stellen zu besetzen«, sagte Schölkopf. Teilnehmer*innen der Tagung führten die nichtbesetzten Stellen hingegen auch auf hohe bürokratische Hürden zurück.

    Der Ministeriumsvertreter verwies darauf, dass die Regierung ein Instrument zur Personalbemessung auf den Weg gebracht und eine Tariflohnpflicht für Pflegeeinrichtungen beschlossen habe. Seit dem 1. September dieses Jahres müssen nicht-tarifgebundene Einrichtungen entweder einen bestehenden Tarifvertrag anwenden oder sich an diesen anlehnen. Alternativ können sie Pflegekräfte auch nach dem durchschnittlichen »regional üblichen Entlohnungsniveau« bezahlen. Private Träger hätten ihre Löhne infolge der Neureglung zum Teil zwischen 10 und 30 Prozent angehoben, sagte Schölkopf.

     
    Fachtagung Altenpflege 2022 - Dr. Martin Schölkopf

    Barbara Susec, die bei ver.di für Pflegepolitik zuständig ist, verwies hingegen auf »chaotische Zustände« in vielen Betrieben. Nicht wenige Arbeitgeber versuchten, die Regelungen zu umgehen oder Beschäftigte zum Verzicht auf anderweitige vertragliche Ansprüche zu drängen. Problematisch sei, dass die Vorgaben nicht für die einzelnen Beschäftigungsverhältnisse, sondern nur im Durchschnitt eingehalten werden müssen. Anders als bei Tarifverträgen ließen sich daraus keine individuellen Rechtsansprüche ableiten, kritisierte Susec. Die Tariflohnpflicht werde »mit Sicherheit nicht dazu führen, dass die Tarifbindung gestärkt wird« – obwohl sich die Bundesregierung eben dies zum Ziel gesetzt habe.

    Wie kompliziert und intransparent die Regelungen zur Tariflohnpflicht sind, wurde auch bei einem Forum deutlich, dass sich mit deren Auswirkungen auf die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretungen befasste. Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen wies auf den außergewöhnlichen Umstand hin, dass die Umsetzungsrichtlinien nicht von Arbeitgebern und Gewerkschaft, sondern vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen vorgegeben werden. »Damit setzen diejenigen die Spielregeln, die es bezahlen – ohne Kontrolle durch Tarif- oder Betriebsparteien.«

     

    Eine Betriebsrätin berichtete, Beschäftigten würden neue Arbeitsverträge mit der Behauptung vorgelegt, die Einrichtung verliere andernfalls ihre Zulassung. »Das ist völliger Quatsch«, sagte der ver.di-Tarifexperte Axel Weinsberg dazu. Er appellierte an die Beschäftigten, Vertragsänderungen keinesfalls ohne vorherige Beratung durch Gewerkschaft oder betriebliche Interessenvertretung zuzustimmen.

    Die Berichte untermauerten die gewerkschaftliche Kritik an dem noch unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beschlossenen Gesetz, betonte die Leiterin des ver.di-Bereichs Gesundheitspolitik, Grit Genster. »Die Tariflohnpflicht ist allenfalls eine Krücke und kein Ersatz für den flächendeckenden Tarifvertrag, den wir wollten«, sagte sie. Die Gewerkschaft halte daher an dem Ziel eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags in der Altenpflege fest. Auch bei der Personalbemessung sieht Genster Nachbesserungsbedarf. Diese müsse personelle Mindeststandards definieren, keine Obergrenzen. »Die Personalbemessung darf keine bloße Empfehlung, sondern muss verbindlich und bundesweit einheitlich sein.«

     

    Die Gewerkschafterin plädierte für einen »Systemwechsel« – in doppelter Hinsicht: Zum einen müsse das Finanzierungssystem perspektivisch zu einer Solidarischen Pflegegarantie weiterentwickelt werden, die das Pflegerisiko vollständig abdeckt und zu deren Finanzierung alle Einkommensarten herangezogen werden. Unmittelbar müssten die Eigenanteile der Bewohner*innen in stationären Einrichtungen gedeckelt werden, da die unter Spahn beschlossenen Zuschüsse bereits weitgehend »verpufft« seien. Zum anderen brauche es einen Systemwechsel mit Blick auf die Orientierung am Gemeinwohl: »Es dürfen nicht länger gewerbliche vor gemeinnützigen Trägern Vorrang haben, sondern umgekehrt: Investoren, die statt an guter Versorgung an Gewinnmaximierung interessiert sind, haben in der Pflege nichts zu suchen.« In diesem Sinne werde ver.di weiter für grundlegende Verbesserungen in der Altenpflege streiten. »Wir brauchen Ausdauer. Und wir brauchen eine starke Gewerkschaft mit einem hohen Organisationsgrad, um die dringend nötigen Verbesserungen gegenüber Arbeitgebern und Politik durchzusetzen.«

     

    Vertiefung in Foren

    In insgesamt sechs Foren diskutierten die rund 80 Teilnehmer*innen der Fachtagung verschiedene Aspekte, die ihre Arbeit als betriebliche Interessenvertretungen beeinflussen –zum Beispiel die aktuelle Rechtsprechung und der Beschäftigtendatenschutz in der Altenpflege. Beim Thema Arbeitsmigration sollten Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen aktiv werden, um Zusammenarbeit und gleichberechtigte Teilhabe zu befördern, meinte der Rechtsanwalt Jörg Ritter-Stütz. Von Arbeitgebern würden Beschäftigte mit den Herausforderungen der Integration allzu oft allein gelassen.

    Ein weiteres Forum beschäftigte sich mit der Personalbemessung, die 2023 auf Grundlage eines Gutachtens des Bremer Professors Heinz Rothgang bundesweit eingeführt werden soll. Die damit verbundenen Umstellungen bei Organisation und Arbeitsinhalten seien für die Einrichtungen eine große Herausforderung, betonte der Betriebsräteberater Timo Balmberger. Den Interessenvertretungen empfahl er, die Arbeitgeber auf ihre Planungen anzusprechen und darauf hinzuwirken, dass die Beschäftigten bei den anstehenden Veränderungen mitgenommen werden.

    Jennie Auffenberg von der Arbeitnehmerkammer Bremen berichtete in einem weiteren Forum von der Studie »Ich pflege wieder, wenn…«, die ein großes Arbeitskräftepotenzial durch die Rückkehr von Pflegekräften festgestellt hat, die ihrem Beruf den Rücken gekehrt haben. Die Studie sei für Interessenvertretungen zum einen eine Argumentationshilfe. Zum anderen ergäben sich daraus auch betriebliche Handlungsoptionen. Eine »Kleckerpolitik« sei zur Rückgewinnung von Pflegekräften nicht hilfreich, meinte Auffenberg. Sinnvoller sei ein ganzheitliches Konzept, das gemeinsam mit Betriebs- und Personalräten sowie Mitarbeitervertretungen entwickelt werden sollte.

     
    Fachtagung Altenpflege 2022


    veröffentlicht/aktualisiert am 16. September 2022

     

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