Fachtagung

Fachtagung Altenpflege 2018

ver.di-Fachtagung: Beschäftigte fordern Entlastung und Aufwertung. Doch die Pläne der Bundesregierung sind unzureichend. Es braucht Engagement und Druck aus den Betrieben.
12.09.2018
ver.di-Fachtagung zur Altenpflege am 3. und 4. September 2018 in Göttingen

 
»Eine der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft«, nannte die Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand, Grit Genster, die Zukunft der Altenpflege. Und untermauerte dies bei einer ver.di-Fachtagung am 3. und 4. September 2018 in Göttingen mit Fakten: Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird Prognosen zufolge bis 2030 von knapp drei auf 3,5 Millionen steigen. Mit gut einer Million sind in der stationären und ambulanten Pflege bereits jetzt mehr Menschen beschäftigt als in Krankenhäusern – und mehr als in der Automobilindustrie. Die Bedeutung der Altenpflege ist also immens; und die Probleme sind gewaltig: Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, die Bezahlung gering, Fachkräfte schwer zu finden. Vor diesem Hintergrund diskutierten die Teilnehmer/innen der Tagung über Ursachen und Lösungsansätze. Die anwesenden Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter/innen waren sich einig: Es muss sich was bewegen – in der Politik, aber auch in den Betrieben.

 
Grit Genster Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand

 
»Das Argument des Fachkräftemangels wird von privaten Trägern missbraucht, um die Politik vom Handeln abzuhalten«, kritisierte Genster. Der Lobbyverband privater Pflegedienste, bpa, hat verbindliche Personalvorgaben immer wieder mit der Behauptung abgelehnt, die dafür notwendigen Pflegekräfte gebe es nicht. »Die Arbeitgeber sollten endlich mit dem Jammern aufhören und etwas dafür tun, dass sich die Bedingungen verbessern«, hielt Genster dagegen. »Zum Beispiel durch eine angemessene Bezahlung, die bei Fachkräften mindestens 3.000 Euro brutto betragen sollte.« Stattdessen seien Tarifflucht, Ausgliederung und Arbeitsverdichtung an der Tagesordnung.

Als zentrale Ursache der Probleme sieht Genster den scharfen Wettbewerb zwischen den Anbietern in der Altenpflege, der seit Mitte der 1990er Jahre von den politisch Verantwortlichen bewusst herbeigeführt worden sei. »Das ist kein Wettbewerb um die beste Qualität und die besten Konzepte, sondern es ist ein marktliberaler Wettbewerb um den niedrigsten Preis«, so die Gewerkschafterin. Ausländische Großkonzerne und Finanzinvestoren hätten die Altenpflege als hochprofitables Anlagefeld entdeckt und setzten auch öffentliche und freigemeinnützige Träger unter Druck. Die Regierung müsse dem einen Riegel vorschieben, indem sie bundesweit einheitliche Standards bei der Personalausstattung vorschreibt und einen Tarifvertrag über Mindestbedingungen in der Altenpflege flächendeckend erstreckt.

 
Prof. Stefan Greß Hochschule Fulda

 
Für einheitliche Personalvorgaben

Das betonte auch Professor Stefan Greß von der Hochschule Fulda, der die Pläne der Bundesregierung zur Verbesserung der Pflege als unzureichend kritisierte. Zwar habe sie die Entwicklung und Erprobung eines Systems der Personalbemessung bis 2020 auf den Weg gebracht, doch dessen Umsetzung sei nicht im Gesetz festgeschrieben. Die angekündigten 13.000 zusätzlichen Stellen nannte Greß zwar einen »Schritt in die richtige Richtung«, wies jedoch darauf hin, dass diese auch mit Hilfskräften besetzt werden könnten, wenn die Einrichtungen binnen drei Monaten keine Fachkräfte finden. »Die Pflegequalität verbessert sich aber nur, wenn zusätzliche Fachkräfte eingestellt werden«, gab der Gesundheitsökonom mit Verweis auf internationale Studien zu bedenken.

Eine künftige Personalbemessung in der Altenpflege sollte bundesweit einheitlich sein und ihre Umsetzung müsse im Rahmen einer öffentlichen Bedarfsplanung überwacht werden, forderte Greß. Zudem müsse sichergestellt sein, dass nicht die pflegebedürftigen Menschen für alle Kostensteigerungen aufkommen müssen – wie das im bisherigen System der Fall ist. Greß plädierte deshalb dafür, kurzfristig die Eigenanteile der Bewohner/innen zu deckeln und langfristig eine Pflegebürgerversicherung einzuführen.

 
Matthias Gruß ver.di-Bundesverwaltung

 
Matthias Gruß von der ver.di-Bundesverwaltung hob ebenfalls hervor, es dürfe kein Keil zwischen die Beschäftigten und die pflegebedürftigen Menschen getrieben werden: »Die Kosten der besseren tariflichen Bezahlung müssen durch die Pflegeversicherung übernommen werden, statt diese allein auf dem Rücken der Pflegebedürftigen abzuladen.«. Nur so könnten die Bewohner/innen und ihre Angehörigen für Verbesserungen in der Pflege gewonnen werden. Gruß bekräftigte die von ver.di seit langem erhobene Forderung, den »Flickenteppich« unterschiedlicher Personalrichtwerte in den Bundesländern zu beseitigen. Während zum Beispiel eine Pflegekraft in Brandenburg rechnerisch 3,42 Menschen mit Pflegegrad 2 betreuen muss, sind es in Hamburg 4,6. »Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund, wir brauchen endlich bundesweit einheitliche und verbindliche Personalstandards.«

»Spahn hat eine Null vergessen«

Die von der Bundesregierung beschlossenen 13.000 zusätzlichen Stellen – durchschnittlich eine pro Einrichtung – seien »viel, viel zu wenig«, kritisierte Gruß. »Gesundheitsminister Spahn hat da wohl eine Null vergessen. Das Zehnfache, das wäre die richtige Dimension.« Darauf will ver.di am 21. November 2018, dem Buß- und Bettag, hinweisen und ruft die Beschäftigten zu einer bundesweiten Foto-Aktion auf. Im kommenden Jahr will die Gewerkschaft einen Schwerpunkt auf die Altenpflege legen. Niko Stumpfögger, Leiter des Bereichs Betriebs- und Branchenpolitik im ver.di-Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen, erklärte: »Wir haben in den nächsten Monaten gute Chancen, in der Altenpflege spürbar etwas zu bewegen.« In Öffentlichkeit und Politik sei »das Feld bereitet, jetzt muss die Mannschaft auf dem Platz noch größer und schlagkräftiger werden«. Der Platz, das sind in diesem Fall vor allem die Betriebe, in denen ver.di »stärker und sichtbarer« werden will.

 
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder Universität Kassel

 
Professor Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel hat in einer Studie festgestellt, dass dafür durchaus Potenzial besteht. Allerdings existierten auch viele Hindernisse für eine »kraftvolle Selbstorganisation« der Beschäftigten in der Altenpflege, so der Politikwissenschaftler auf der Göttinger Tagung. Bei vielen Pflegekräften bestehe eine Art »Zuneigungsgefangenschaft«: Die Sorge um die pflegebedürftigen Menschen halte sie davon ab, für ihre eigenen Interessen aktiv zu werden. Die meisten Beschäftigten sähen den Staat in der Verantwortung, die Situation zu verbessern, wenige nähmen ihren eigenen Arbeitgeber in die Pflicht. Doch wenn die Beschäftigten in der Altenpflege etwas verändern wollten, müssten sie sich organisieren. Die von der Bundesregierung »von oben« ins Leben gerufene »Konzertierte Aktion Pflege« müsse durch eine »Konzertierte Aktion von unten« ergänzt werden, schlug Schroeder vor. »Wenn es nicht gelingt, starke Betriebsräte und Gewerkschaften aufzubauen, wird es schwierig.«

 

Teufelskreis durchbrechen

Der Befragung zufolge sind viele Beschäftigte in den Pflegeeinrichtungen durchaus bereit, sich zu engagieren und an Aktionen bis hin zu Streiks teilzunehmen. Das Problem ist nur: Sie wissen nicht, wie. Vier von fünf Beschäftigten geben an, noch nie von einem oder einer Gewerkschafter/in angesprochen worden zu sein. »Das ist ein Teufelskreis«, erklärte Schroeder. »Die Gewerkschaft hat wenige Mitglieder, verfügt deshalb über geringe Ressourcen und ist in den Betrieben kaum präsent – und gewinnt dadurch wenige neue Mitglieder.«

Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, haben sich die Teilnehmer/innen der Göttinger Tagung fest vorgenommen. In einer Resolution riefen sie »unsere Kolleginnen und Kollegen in allen stationären und ambulanten Einrichtungen (…) dazu auf, aktiv zu werden, betriebliche Interessenvertretungen zu wählen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, Tarifverträge zu erkämpfen. Nur so lässt sich die Abwärtsspirale aus geringer Bezahlung, schlechten Arbeitsbedingungen und fehlenden Pflegekräften durchbrechen. Mehr von uns ist besser für alle!«

 
Michaela Evans Institut Arbeit und Technik (IAT)

  • »Keine Angst vor Konflikten«

    Neben den Diskussionen zur Lage der Altenpflege und den Plänen der Bundesregierung ging es auf der von ver.di organisierten Fachtagung vor allem um die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretungen. Bei einem Praxisforum diskutierten die Teilnehmer/innen über die Stärkung der Handlungskompetenz von Betriebs- und Personalräten sowie Mitarbeitervertretungen. In einem weiteren Forum berichtete Jochen Herweh von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, wie Begehungen durch die Unfallversicherung genutzt werden können, den Gesundheitsschutz zu verbessern. Silvia Thimm, Betriebsrätin in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Duisburg, erklärte, wie das Instrument der Gefährdungsbeurteilung helfen kann, Entlastung zu erreichen.
     

     
    Silvia Thimm Betriebsrätin in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Duisburg

     
    Der Essener Rechtsanwalt Markus Neuhaus forderte die Interessenvertreter/innen auf, »keine Angst vor Konflikten« zu haben. Es gebe keinen Grund, die Mitbestimmungsrechte nicht vollständig im Sinne der Beschäftigten in Anspruch zu nehmen. So müsse der Betriebs- und Personalrat bzw. die Mitarbeitervertretung nicht nur der Aufstellung der Dienstpläne zustimmen, sondern auch jeder Änderung daran. Um ihre Einflussmöglichkeiten nutzen zu können, sei es für Interessenvertretungen in der Altenpflege wichtig, vom Arbeitgeber die dafür nötigen Auskünfte und Unterlagen einzufordern, zum Beispiel die Pflegesatzvereinbarungen zwischen Einrichtungen und Kostenträgern. Nur auf dieser Grundlage seien sie in der Lage, die Personalbesetzung zu überprüfen. »Der Betriebsrat hat für die Beschäftigten eine Schutzfunktion. Um sie zu nutzen, braucht er Wissen und Konfliktfähigkeit.«

     

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