Altenpflege

Ungenutztes Potenzial

Viele Einrichtungen in der Altenpflege jammern über einen Mangel an Fachkräften. Doch das Problem ist hausgemacht – durch erzwungene Teilzeitarbeit.
07.06.2017

Studien belegen: Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung verursacht oder verschärft zumindest den Personalmangel. So kommt Professor Michael Simon 2012 in einer Studie zu dem Schluss: »Es gibt keinen Fachkräftemangel, sondern vielmehr einen Mangel an adäquaten Vollzeitarbeitsplätzen.« Die zur Begründung vorgelegten Zahlen sind beeindruckend: Ab 1999 fand in der stationären Pflege eine dramatische Umwälzung der Beschäftigtenstruktur statt. Hatte 1999 noch fast die Hälfte der Beschäftigten einen Vollzeitvertrag, waren es 2013 weniger als ein Drittel. Obwohl die Zahl der Bewohner/innen erheblich stieg, ging die der Vollzeitbeschäftigten zwischen 2001 und 2013 um 15.000 zurück. In der ambulanten Pflege stieg zwar die absolute Zahl der Vollzeitangestellten, doch ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung ging leicht auf nur noch 27 Prozent zurück.

Simons Schlussfolgerung: »Offensichtlich gibt es bei den Pflegefachkräften ein erhebliches Arbeitszeitpotenzial, das gegenwärtig nicht genutzt wird bzw. verfügbar ist.« Der Fachkraftmangel sei vor allem auf die starke Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen. Auf alle Pflegefachkräfte bundesweit bezogen gebe es eine »Unterbeschäftigung« in relevantem Umfang.

Das bestätigt auch eine im gleichen Jahr veröffentlichte Modellrechnung im Auftrag des Wirtschaftministeriums. Darin nehmen die Autoren an, der Anteil der Teilzeitbeschäftigten in der Pflege könnte auf den Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche von 34,6 Prozent abgesenkt werden. Das Ergebnis: In der ambulanten Pflege gäbe es knapp 48.000, im stationären Bereich fast 77.500 Vollzeitkräfte mehr.

Hinzu kommt, dass mehr als 80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten weiblich sind – und Frauen auch den größten Teil der Pflegekräfte stellen. Nur mal angenommen, die Vollzeitquote von Frauen würde sich derjenigen von Männern angleichen – zum Beispiel durch eine gerechtere Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern und besseren Angeboten bei Kinderbetreuung und Pflege. In diesem Fall stünden in der Altenhilfe zusätzlich 201.000 Vollzeitkräfte zur Verfügung. Diese Modellrechnung mag unrealistisch erscheinen, sie zeigt aber, welches Potential an Arbeitskräften in der Pflege heute bereits vorhanden ist.

Diese Zahlen und Modellrechnungen sind seit einigen Jahren bekannt, doch es werden keine Konsequenzen daraus gezogen. Im Gegenteil. Immer noch argumentieren Einrichtungsleitungen damit, bei Krankheitsausfällen ließen sich Teilzeitbeschäftigte einfacher ersetzen als Vollzeitkräfte. Und die Befristung von Arbeitsverträgen ermögliche eine flexiblere Personalplanung. Dabei müsste auch den Geschäftsleitungen klar sein, dass Zwangsteilzeitstellen und Befristungen das Ausscheiden aus dem Beruf deutlich befördern. Was sich betriebswirtschaftlich auf dem Papier vielleicht rechnet, verschärft den Personalnotstand in der Pflege massiv.

Wie kommt es zu dieser andauernden selbstzerstörerischen Personalpolitik? Das betriebswirtschaftliche Denken prägt und bestimmt die Führung der Pflegeeinrichtungen. Das Wohl der Bewohner/innen und der Patient/innen ist nicht mehr das Leitmotiv. Auch mitarbeiterfreundliche und »progressive« Leitungen stehen im Konkurrenzkampf mit anderen Einrichtungen. Unter wirtschaftlichem Druck passen sie sich der vorherrschenden Personalpolitik an und setzen ebenfalls auf die bevorzugte Einstellung von Teilzeitkräften.

Manche Heimleitungen wenden nun ein, viele der Teilzeitbeschäftigten wollten von sich aus keine Vollzeitstelle. Richtig. Aber warum? Die Arbeit in der Pflege ist so belastend, dass etliche Beschäftigte eine 40-Stunden-Woche – und dazu die regelmäßig anfallenden Überstunden – nicht mehr packen und ihre Arbeitszeit »freiwillig« reduzieren. In einer Befragung des DGB geht in der ambulanten Pflege nur jeder Vierte davon aus, bis zum gesetzlichen Rentenalter durchzuhalten. Im stationären Sektor ist es sogar nur jeder Fünfte. Die Autorinnen einer deutsch-schwedischen Vergleichsstudie zu Arbeitsbedingungen in der Altenpflege kommentieren: »In Anbetracht dessen, dass weniger als ein Fünftel der Befragten sich vorstellen kann, die in diesem Falle auftretenden Einkommenseinbußen beispielsweise durch das Gehalt des (Ehe-)Partners oder der (Ehe-)Partnerin oder anderweitiges Einkommen ausgleichen zu können, sind diese Werte alarmierend.«

Die Arbeitgeber haben es selbst in der Hand. Wenn sie genug Vollzeitstellen anbieten und die Arbeitsbedingungen verbessern, wäre der Mangel an Fachkräften kein gravierendes Problem. Nötig sind:

  • Reduzierung der Arbeitsbelastung durch Erhöhung der Stellenpläne
  • Vollzeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse als Regelfall
  • faire Entlohnung
  • Schaffung geeigneter Arbeitsplätze für ältere Pflegekräfte

Erhard Schleitzer, ehem. AG-MAV Vorsitzender der Diakonie Hessen-Nassau, hat sich im Rahmen einer Projektarbeit mit der Situation in der Altenpflege beschäftigt.