Die diesjährige Fachtagung für betriebliche Interessenvertretungen in der Altenpflege stand ganz im Zeichen der Digitalisierung. Zum einen, weil sie aufgrund der Corona-Pandemie erstmals online stattfand – was etliche Teilnehmer*innen bedauerten. Zum anderen beschäftigten sich die Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen auch inhaltlich viel mit digitaler Technik und deren Bedeutung für die Mitbestimmung.
»Wir hören auch in der Pandemie nicht auf, unsere Arbeit zu machen – ob als Gewerkschaften oder betriebliche Interessenvertretungen«, stellte Matthias Gruß klar, der in der ver.di-Bundesverwaltung für die Altenpflege zuständig ist. »Gerade in solchen Krisenzeiten wird deutlich, wie wichtig die Mitbestimmung ist. Dort, wo es sie gibt, läuft es besser.« Dennoch sei die aktuelle Situation für Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen in der Altenpflege eine große Herausforderung. Hinweise darauf, wie sie zu bewältigen ist, gaben die Referent*innen auf ganz unterschiedlichen Ebenen.
Die Frankfurter Rechtsanwältin Lisa Politycki erläuterte die Inhalte des im Betriebsverfassungsgesetz neu geschaffenen Paragraphen 129, der unter anderem die Möglichkeit zur Beschlussfassung in Video- oder Telefonkonferenzen regelt. Sie verwies darauf, dass dies nur vorübergehend gilt und alle anderen Vorgaben zur gerichtsfesten Beschlussfassung in Kraft bleiben. Das heißt zum Beispiel, dass die Vertraulichkeit der Betriebsratssitzung auch im digitalen Raum gegeben sein muss und Aufzeichnungen verboten sind. Politycki betonte zudem, alle Gremienmitglieder müssten über die technischen Voraussetzungen zur Teilnahme verfügen. »Kein Betriebsratsmitglied darf von den Diskussionen und Entscheidungen ausgeschlossen werden.«
Die Juristin zeigte sich skeptisch gegenüber Forderungen nach einer dauerhaften Öffnung für digitale Beschlussfassungen, wie sie beispielsweise die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) erhebt. Erste Urteile bestätigten, dass die Gerichte Präsenz- und Onlinesitzungen als nicht gleichwertig einschätzen. Die Gremien hätten auch in der Pandemie einen eigenen Beurteilungsspielraum, in welcher Form sie ihre Sitzungen abhalten wollen. Auch anderweitig dürfe der Arbeitgeber die Arbeit der Interessenvertretungen nicht einschränken. So könne er ihnen weder Reisen in Zusammenhang mit Schulungen untersagen noch Homeoffice anordnen.
Marcel Mudrich, Geschäftsführer der Webstoff IT- und Kommunikationsberatung, ging in seinem Vortrag auf die technische und praktische Seite digitaler Sitzungen ein. Er stellte verschiedene Tools vor, die die Teilnehmer*innen während des Workshops ausprobieren konnten. Bei einer Befragung der Teilnehmenden stellte sich heraus, dass keine der Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen bislang virtuelle Betriebs- bzw. Personalversammlungen plant, zwei Drittel aber schon einmal als Gremium digital getagt haben. In der Debatte verwiesen einige darauf, dass Beschäftigte in der Altenpflege zum Teil große Skepsis und wenig Übung im Umgang mit digitaler Technik haben. Auch die Ausstattung durch die Arbeitgeber sei oftmals völlig unzureichend. Mudrich ermutigte die Interessenvertretungen, die nötige Ausstattung beharrlich einzufordern. Eindringlich warnte er davor, private Endgeräte für die Betriebsratsarbeit einzusetzen. »Das kann Hackern Zugänge bieten und macht euch angreifbar«, so der IT-Experte.
Um Digitalisierung ging es auch im Vortrag von Christine Ludwig. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen hat im Rahmen des Projekts »DialogSplus« Prozesse zur Einführung digitaler Technik in Pflegeeinrichtungen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen in diese oftmals nicht ernsthaft einbezogen werden. Dabei sei es auch aus Arbeitgebersicht sinnvoll, frühzeitig alle Perspektiven einzubeziehen, um Fehler zu vermeiden. »Es trifft nicht zu, dass Interessenvertretungen technische Neuerungen blockieren wollen«, sagte Ludwig. In den Projektbetrieben habe man zumindest »Grundsteine für einen Dialog« über den Einsatz digitaler Technik legen können. Die Erfahrungen damit seien sehr positiv, berichtete eine Teilnehmerin aus einem Projektbetrieb.
Gute Mitbestimmungskultur sei eine gute Voraussetzung für gelingende Digitalisierungsprozesse, betonte Ludwig. Sie forderte die Interessenvertretungen auf, die Digitalisierung auch als Chance zur Stärkung der Mitbestimmung zu begreifen und Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen zum Thema anzustreben. »Der digitale Wandel ist allerdings so schnell, dass manche Betriebsvereinbarungen schon von der Wirklichkeit überholt sind, bevor sie fertig sind«, erklärte die Wissenschaftlerin. Daher sei es sinnvoll, vor allem »prozedurale« Vereinbarungen abzuschließen, die mitbestimmte Verfahren bei der Einführung digitaler Technik festschreiben.
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie spielten bei der Fachtagung nicht nur mit Blick auf die Digitalisierung eine zentrale Rolle. Deren Folgen auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz beleuchtete Doreen Lindner, Abteilungsleiterin bei ver.di Bildung + Beratung in Frankfurt am Main. »Besonders im März und April 2020 meinten manche Arbeitgeber, der Arbeits- und Gesundheitsschutz sei außer Kraft gesetzt«, berichtete sie. »Das ist nicht so. Alles, was vor der Pandemie galt, gilt weiter.« Zusätzlich wurden der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard, die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel sowie zuletzt die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung beschlossen, die Beschäftigte vor Infektionen schützen und die Verbreitung des Coronavirus eindämmen sollen. »Wenn alle Arbeitgeber diese Standards so umgesetzt hätten, dann wären wir beim Infektionsschutz heute etwas weiter«, glaubt Lindner. So seien die Arbeitgeber beispielsweise dazu verpflichtet, Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen und daraus konkrete Schutzmaßnahmen abzuleiten, was allzu oft nicht oder nur unzureichend geschehe. Die Interessenvertretungen seien dabei in der Mitbestimmung.
In vielen Betrieben reduziere sich der Infektionsschutz in erster Linie auf personenbezogene Maßnahmen wie das Tragen von Masken und Persönlicher Schutzausrüstung. Es müssten aber auch technische und organisatorische Maßnahmen geprüft werden, betonte Lindner. »Im Arbeits- und Gesundheitsschutz gilt der Grundsatz: Verhältnis- vor Verhaltensprävention.« Doch in der Pandemie sei es viel zu oft umgekehrt. Die Juristin forderte die Interessenvertreter*innen auf, mit Betriebs- und Dienstvereinbarungen auf den Infektionsschutz Einfluss zu nehmen. In der Diskussion wurde deutlich, dass sich mit der Pandemie auch eine Vielzahl neuer individualrechtlicher Fragen stellen. Lindner verwies in diesem Zusammenhang auf die von ver.di zur Verfügung gestellten FAQ, die viele Antworten auf konkrete Fragen liefern.
Im letzten Teil der Tagung informierten ver.di-Verantwortliche über neuere Entwicklungen in der Altenpflege. Barbara Susec, die in der ver.di-Bundesverwaltung für Pflegepolitik zuständig ist, berichtete über den Stand der Dinge in Sachen Personalbemessung. Sie verwies auf das von Professor Heinz Rothgang von der Uni Bremen vorgelegte Gutachten, wonach für eine adäquate Versorgung in der stationären Pflege 36 Prozent mehr Personal nötig wäre – umgerechnet rund 115.000 zusätzliche Vollzeitstellen. Der von dem Gesundheitsökonomen entwickelte Algorithmus zur Personalbemessung solle auf Drängen von ver.di nun zwar doch erprobt und evaluiert werden, Letzteres allerdings erst Ende 2024. »Wir brauchen eine bundeseinheitliche und verbindliche Personalbemessung«, betonte Susec. Doch deren Einführung sei in den Beschlüssen der Bundesregierung bislang nicht festgeschrieben.
Die Gewerkschafterin kritisierte zudem, dass die Fachkraftquote in der stationären Pflege abgeschafft werden soll, noch bevor ein einheitliches Instrument zur Personalbemessung vorliege. Vor diesem Hintergrund sei es wichtig, sich weiter aktiv für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Mehr Personal und eine auskömmliche Finanzierung der Altenpflege soll auch eines der zentralen Themen von ver.di im Bundestagswahlkampf sein. »Wir müssen den Druck aufrecht erhalten, um zu guten Ergebnissen zu kommen«, appellierte Susec. Teilnehmer*innen der Tagung zeigten sich »entsetzt und frustriert« über die unzureichenden Pläne der Bundesregierung. Die ganzheitliche Pflege dürfe nicht noch weiter untergraben werden, indem zunehmend Hilfs- statt Fachkräften eingesetzt und der Pflegeprozess immer stärker zergliedert werden, so der Tenor.
In der Auseinandersetzung um die Personalausstattung in der Altenpflege spielten viele Interessen eine Rolle – auch finanzielle, erklärte Sylvia Bühler, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig ist. Angesichts der starken Widerstände rief sie die Kolleg*innen aus der Altenpflege auf, »noch lauter zu werden«. Das gelte auch für die Auseinandersetzung um einen flächendeckenden Tarifvertrag, die in der entscheidenden Phase ist. Diese Woche entscheiden die Arbeitsrechtlichen Kommissionen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, ob sie den von ver.di mit dem Arbeitgeberverband BVAP ausgehandelten Tarifvertrag über Mindestbedingungen unterstützen. »Ich gehe davon aus, dass Caritas und Diakonie ihre Verantwortung kennen und helfen, dieses Projekt zu befördern«, sagte Bühler. So könne der Ausbeutung in der Altenpflege insbesondere durch kommerzielle Betreiber ein Riegel vorgeschoben werden. Dies wäre »ein ganz wichtiger Meilenstein«.
Allerdings setzen die Arbeitgeberverbände – auch außerhalb der Pflege – offenbar alles daran, das Projekt zu Fall zu bringen. Dass sich die BDA gegen den flächendeckenden Tariflohn ausgesprochen hat, mache sie »fassungslos« erklärte eine Altenpflegerin. »Schließlich ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Versorgung der älteren Generation zu sichern. Ein solches Verhalten macht mich wütend.« Bühler ermutigte die Kolleg*innen, sich noch stärker zu organisieren und ihren Unmut auch öffentlich zu zeigen. »Empört euch!«
Ihrer Empörung Ausdruck gaben die Teilnehmer*innen auch darüber, dass die zum Orpea-Konzern gehörende Residenz-Gruppe in Bremen Betriebsräte wegen angeblicher Pflichtverletzung kündigen will. Diese hatten eine sogenannte Gesundheitsprämie abgelehnt, die kranke Beschäftigte bestrafen würde. Die versammelten Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter*innen zeigten mit einem Solidaritätsschreiben an die betroffenen Kolleg*innen ihre Solidarität. Trotz des Onlineformats sei es eine sehr gelungene Tagung gewesen, so der Tenor zum Abschluss. Die nächste Fachtagung Altenpflege ist für den 19. und 20. Oktober 2021 geplant – dann hoffentlich wieder in Präsenz.