Pflege: enormes Fachkräftepotenzial

21.06.2022

Pflege: Enormes Fachkräftepotenzial – wenn sich die Bedingungen verbessern

Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in der ambulanten Pflege und anderen Gesundheitseinrichtungen fordern mehr Personal und Entlastung. Doch viele Arbeitgeber und politisch Verantwortliche reden sich mit dem Fachkräftemangel heraus. Man würde ja gerne mehr Kolleg*innen einstellen, heißt es dann, doch auf dem Arbeitsmarkt seien diese nicht zu finden. Deshalb müssten die aktuell Beschäftigten weiter über ihre Grenzen gehen, länger arbeiten, zu viele Patient*innen gleichzeitig versorgen und außerhalb des Dienstplans einspringen.

 
Flyer Pflegepotenzialstudie

Auswege aus dem Teufelskreis

So dreht sich die Spirale weiter: Weil sie die Arbeit unter diesen Bedingungen nicht mehr aushalten, verlassen immer mehr qualifizierte Pflegekräfte ihren Beruf oder verringern auf eigene Kosten ihre Arbeitszeit. Oft gehen Kolleg*innen schon kurz nach ihrer Ausbildung aus der Profession, die sie sich eigentlich aus gutem Grund gewählt hatten. Weil sie nicht das umsetzen können, was sie in der theoretischen Ausbildung gelernt haben. Weil sie sich nicht vorstellen können, unter den Bedingungen bis zur Rente durchzuhalten. Die Folgen sind: noch weniger Pflegekräfte und noch höherer Druck auf die Verbliebenen.

Aus diesem Teufelskreis gibt es Auswege. Das belegt die von der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer des Saarlandes sowie dem Institut Arbeit und Technik erstellte Studie »Ich pflege wieder, wenn…«. Die Befragung von rund 12.700 Pflegepersonen zeigt ein enormes Potenzial an Pflegefachkräften, die unter bestimmten Bedingungen bereit sind, in ihren Beruf zurückzukehren bzw. ihre Arbeitszeit aufzustocken. Weniger als ein Drittel der Teilzeitkräfte schließt demnach eine Stundenerhöhung aus. Von den Ausgestiegenen sind nur knapp zwölf Prozent grundsätzlich nicht bereit zurückzukehren. Im Umkehrschluss heißt das: Fast 90 Prozent der Ausgestiegenen und knapp 70 Prozent der Teilzeitkräfte könnten dafür gewonnen werden. Für 33 Prozent der Teilzeitkräfte und 39 Prozent der Ausgestiegenen ist das sogar wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich. Als Voraussetzung nennen sie vor allem: bessere Arbeitsbedingungen.

In der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie wird errechnet, wie viele qualifizierte Arbeitskräfte für die Pflege zurückgewonnen werden könnten. Die Autor*innen entwerfen dafür ein konservatives und ein optimistisches Szenario. Im konservativen Modell werden diejenigen einbezogen, die auf einer Skala von 1 bis 10 ihre Bereitschaft zur Rückkehr/Arbeitszeitaufstockung mindestens mit einer 8 angeben. Die optimistische Variante bezieht alle ein, die dies nicht grundsätzlich ausschließen.

Die Anteile werden zur Gesamtzahl der Pflegekräfte in Bezug gesetzt, die den Beruf verlassen haben (Schätzung auf Grundlage von Daten der Barmer-Krankekasse: 864.000 Fachkräfte) bzw. in Teilzeit arbeiten (Schätzung auf Grundlage der Pflegestatistik: 408.000 Fachkräfte). Ausgestiegene Pflegepersonen geben im Median an, 30 Stunden pro Woche arbeiten zu wollen. Teilzeitkräfte würden ihre Arbeitszeit demnach um durchschnittlich zehn Wochenstunden aufstocken. Eine Vollzeitstelle wird in der Hochrechnung mit 38,5 Stunden zugrundegelegt.

Die Ergebnisse zeigen ein enormes Fachkräftepotenzial. So könnten bei konservativer Schätzung durch Berufsrückkehrer*innen etwa 263.000 Vollzeitstellen zusätzlich besetzt werden. In der optimistischen Variante sind es sogar 583.000. Allein das würde reichen, um die Besetzung des Pflegepersonals in Krankenhäusern und Pflegeheimen auf ein bedarfsgerechtes Niveau zu heben. Denn laut Professor Heinz Rothgang von der Uni Bremen fehlen in stationären Pflegeeinrichtungen rund 115.000 Beschäftigte (t1p.de/altenpflege-erprobung). In der Krankenpflege sind nach Berechnungen des Gesundheitssystemforschers Michael Simon rund 100.000 zusätzliche Pflegekräfte für eine bedarfsgerechte Versorgung nötig (t1p.de/kh-fallpauschalen). Zwar wird der Bedarf insbesondere in der Altenpflege wegen der demografischen Entwicklung weiter steigen, klar ist aber: Wird das Potenzial ausgestiegener Pflegekräfte mobilisiert, kann der Fachkräftemangel überwunden werden. Zumal zwischen 39.000 und 78.000 weitere Vollzeitstellen durch die Aufstockung von Teilzeitverträgen zusätzlich besetzt werden könnten.

Es gibt in der Pflege also keinen Mangel an Fachkräften. Es besteht vielmehr einen Mangel an examinierten Pflegepersonen, die unter den derzeitigen Bedingungen bereit sind, in der Pflege zu arbeiten. Im Folgenden werden einige Aspekte dargestellt, die von den Befragten als Voraussetzung für ihre Rückkehr bzw. verlängerte Arbeitszeiten genannt werden.

 

Fachkräfte zurückholen – das sind die Voraussetzungen

 

  • 95,1 % halten »bedarfsgerechte Personalbemessung« für wichtig

    Klarer Befund: Eine bedarfsgerechte Personalausstattung ist der entscheidende Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege. Das betonen über 95 Prozent derjenigen, die sich eine Rückkehr bzw. längere Arbeitszeiten vorstellen können. ver.di fordert verbindliche und bundesweit einheitliche Personalvorgaben, die sich am tatsächlichen Versorgungsbedarf orientieren. Der Fachkräftemangel ist kein Argument dagegen – im Gegenteil: Wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern, können genug Menschen für die Pflege gewonnen und im Beruf gehalten werden. Das geht nur, wenn auf den Stationen und in den Bereichen genug Personal eingesetzt wird. Dafür braucht es verbindliche Vorgaben.

     

  • 92,7 % halten »mehr Zeit für menschliche Zuwendung« für wichtig

    Pflege ist mehr als »satt und sauber«. Menschliche Zuwendung ist ein wichtiger Teil guter Versorgung und trägt zum Genesungsprozess bei. Für hilfsbedürftige Menschen da zu sein, ist für viele Pflegekräfte eine wesentliche Motivation. Doch im Alltag ist dafür oft keine Zeit. Das muss sich ändern, wenn Pflegekräfte zur Rückkehr in ihren Beruf oder zur Aufstockung ihrer Arbeitszeiten bewegt werden sollen.

     

  • 89,1 % halten »verbindliche Dienstpläne« für wichtig

    Verlässliche Arbeitszeiten sind für fast 90 Prozent der Befragten eine Bedingung dafür, dass sie in den Pflegeberuf zurückkehren oder ihre Arbeitszeit aufstocken. Doch in der Realität kann sich nur eine kleine Minderheit der beruflich Pflegenden sicher sein, nicht in der Freizeit angerufen und zum Dienst gebeten zu werden. Das macht ein geregeltes Familien- und Sozialleben unmöglich. Die permanente Unsicherheit ist für viele ein Grund, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Wer die Berufsflucht stoppen und umkehren will, muss daher für verlässliche Arbeitszeiten sorgen – mit Ausfallkonzepten und einer ausreichenden Personaldecke.

     

  • 84,1 % halten »Tarifbindung« für wichtig

    Tarifverträge bieten Sicherheit. Doch insbesondere kommerzielle Einrichtungen in der Altenpflege sind oft nicht an einen Tarifvertrag gebunden. In ihnen entscheidet der Arbeitgeber einseitig, wie er die Beschäftigten bezahlt und welche Bedingungen er ihnen bietet. Um die Branche attraktiver zu machen, braucht es eine flächendeckende Tarifbindung. Für gut 84 Prozent der potenziellen Rückkehrer*innen ist dies eine wichtige Frage. Doch die bisherigen gesetzlichen Regelungen stellen nicht sicher, dass überall nach einem maßgeblichen Tarifvertrag entlohnt wird. Deshalb bleibt ver.di an dem Thema dran.

     

  • 94,4 % halten »Vorgesetzte, die sensibel für meine Arbeitsbelastung sind« für wichtig

    Arbeitgeber haben gegenüber ihren Beschäftigten eine Fürsorgepflicht. Sie müssen sicherstellen, dass ihre Gesundheit nicht durch schlechte Arbeitsbedingungen gefährdet wird. In manchen Einrichtungen ist davon nichts zu merken. Die permanente Überforderung der Beschäftigten wird sehenden Auges in Kauf genommen. Vorgesetzte stehlen sich aus der Verantwortung und überlassen es den Teams, den Betrieb trotz der Personalnot am Laufen zu halten. Diese Erfahrung hält offenbar nicht wenige von einer Rückkehr ab. 

     

  • 77,2 % halten »betriebliche Interessenvertretung« für wichtig

    Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen achten auf die Einhaltung von Schutzgesetzen und Tarifverträgen. Sie haben Möglichkeiten der Mitgestaltung. Wenn sie diese konsequent nutzen, kann das einen wichtigen Unterschied machen. Wo betriebliche Interessenvertretungen fehlen, sind Beschäftigte in Konflikten mit dem Arbeitgeber auf sich gestellt. Deshalb hilft ver.di bei der Gründung betrieblicher Interessenvertretungen und unterstützt deren Mitglieder durch Schulung und Beratung.

     

  • 97,4 % halten »fairen Umgang unter Kolleg*innen« für wichtig

    Viele Pflegekräfte bleiben nur deshalb im Beruf, weil das Team funktioniert. Weil sie sich auf ihre Kolleginnen und Kollegen verlassen können und das ein tolles Gefühl ist. Doch die Kollegialität wird von Arbeitgebern oft schamlos ausgenutzt. Beschäftigte bleiben länger oder springen ein, weil sie ihre Kolleg*innen nicht hängen lassen wollen. Wie wäre es, den Spieß umzudrehen? Manche Teams entscheiden kollektiv, freiwillige Leistungen zu verweigern, wenn der Arbeitgeber nicht für Entlastung sorgt. Das führt meistens zum Erfolg. So wird die Solidarität im Team zur Ressource, die eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zum Nachlesen: t1p.de/team-pflege

     

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Konsequenzen ziehen – unsere Forderungen

  • Das von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Deutschen Pflegerat und ver.di vorgelegte Instrument für eine bedarfsgerechte Personalbemessung in der Krankenpflege, PPR 2.0, kurzfristig in Kraft setzen

  • Bedarfsgerechte und verbindliche Personalbemessung in der Altenpflege schnell und vollumfänglich umsetzen

  • Psychiatrie-Personalverordnung zu 100 Prozent einhalten

  • Besonders in der Altenpflege: flächendeckende Entlohnung nach relevanten Tarifverträgen

  • Bedarfsgerechte und solidarische Finanzierung

  • Schluss mit Kommerzialisierung und Profitmaximierung im Gesundheitswesen

 


veröffentlicht/aktualisiert am 21. Juni 2022

 

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