Die Internationale Hochschule Bad Honnef (IUBH) hat in Kooperation mit ver.di ein Forschungsprojekt zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement gestartet. Mit welchen Zielen?
Ziel ist es, einen Überblick über gesunde Strukturen und gesundes Verhalten in der Altenpflege zu erhalten. Die Beschäftigten dieser Branche sind hoch belastet und arbeiten vielfach im Niedriglohnsektor. Wir wollen einen realistischen Einblick in die Lebens- und Arbeitswelten dieser Berufe bekommen. Deshalb werden wir die Arbeitnehmervertretungen befragen. Denn wir sind davon überzeugt, durch ihre Perspektive einen validen Blick auf den Status Quo zu erhalten.
Was genau ist hier mit Betrieblichem Gesundheitsmanagement gemeint?
Wir arbeiten mit einem ganzheitlichen Modell des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Es ist ein Schnittstellenthema, das fast alle Bereiche eines Unternehmens integriert – und mehr als das persönliche Verhalten des Einzelnen betrifft. Es geht also nicht nur um den Rückenkurs, das gesunde Mittagessen oder den Schrittzähler, sondern vor allem um strukturelle Fragen: Werden die Gesetze zu Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit eingehalten? Wie wird betriebliche Wiedereingliederung nach einer längeren Krankschreibung umgesetzt? Welche arbeitsmedizinische Versorgung steht Beschäftigten zur Verfügung? Aber auch: Welche Haltung haben Führungskräfte in diesen Fragen? Werden Schichtpläne und Pausen gesund gestaltet? Gibt es ein gesundes Miteinander: Wie geht ein Unternehmen mit Konflikten, mit schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen oder psychisch belasteten Personen um? Mit der Befragung wollen wir ein ganzheitliches Bild über das Gesundheitsmanagement in den Betrieben erhalten. Der Fokus liegt also nicht auf dem Handeln des Einzelnen, sondern auf dem System und vor allem auf der Frage, ob gesetzliche Mindeststandards eingehalten werden.
Ein wichtiges Element des betrieblichen Gesundheitsschutzes ist die Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen. Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen berichten, dass diese oft nicht oder nur unzureichend durchgeführt werden. Gibt es dazu genauere Erhebungen?
Nein, die gibt es nur rudimentär. Das war für uns auch eine Motivation, dieses Projekt zu machen. Wir haben festgestellt, dass das Gesetz zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen schon seit 2013 besteht, aber oft nicht umgesetzt wird – besonders in kleineren Betrieben und im Niedriglohnbereich. Inwiefern das passiert, wird bislang aber nicht systematisch erhoben. Das wollen wir mit unserer Befragung angehen. Wir wollen einen konkreten Einblick in die Situation erlangen.
Als erstes untersuchen Sie die Altenpflege. Warum haben Sie diesen Bereich ausgewählt?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen steht die Altenpflege seit einiger Zeit im Fokus vieler Debatten. Zum anderen landen wir in Zusammenhang mit den sogenannten Megatrends Demografie und Fachkräftemangel immer wieder auch bei dieser Branche. Sie ist extrem heterogen. Das Spektrum geht von ganz kleinen Anbietern bis zu großen, privaten Konzernen mit vielen hundert oder gar tausenden Beschäftigten. Von den 3,6 Millionen Unternehmen in Deutschland sind über 2,4 Millionen Kleinstunternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten. Das ist natürlich ein spannendes Untersuchungsfeld, das wir bearbeiten wollen.
Der Problemdruck in Sachen Arbeitsbelastung ist in der Altenpflege besonders hoch.
Das stimmt und ist für ver.di sicher auch eine Intention, sich an dem Projekt zu beteiligen. Das Berufsfeld Altenpflege tut sich immer noch schwer damit, Strukturen der Arbeitnehmervertretung zu schaffen, die für gute Arbeit und angemessene Löhne sorgen können. Da ist noch viel Luft nach oben. Die Zusammenarbeit im Projekt kann daher für beide Seiten wertvoll sein.
Wie genau wollen Sie die Daten für den »BGM-Branchenkompass« erheben?
Es ist eine Online-Befragung der betrieblichen Arbeitnehmervertretungen. Von der Gewerkschaft erhoffen wir uns, dass sie uns hier Zugänge ermöglicht. In Unternehmen ohne Arbeitnehmervertretung wollen wir ebenfalls Kontakte knüpfen und dort die Einrichtungsleitungen befragen.
Warum ist es aus Sicht der betrieblichen Interessenvertretungen in der Altenpflege sinnvoll, sich an der Befragung zu beteiligen?
Aus Perspektive einer Wissenschaftlerin, die auch in der Praxis tätig ist, finde ich es wichtig, die Verbindung von Wissenschaft und Praxis stets im Blick zu haben. Es hilft, sich in der praktischen Arbeit auf wissenschaftlich fundierte und valide Erkenntnisse zu beziehen. Das kann auch die Argumentationsgrundlage und Durchschlagskraft in Richtung der politischen Entscheidungsträger verstärken. Damit die bereits bestehenden Gesetze auch umgesetzt und womöglich weitere Regelungen geschaffen werden. Auch hier erhoffen wir uns Synergien durch die Zusammenarbeit mit ver.di, die ja über Kommunikationsplattformen und Einfluss auf die Politik verfügt.
Das heißt, das Projekt soll nicht nur die Situation beschreiben, sondern kann auch dabei helfen, die Gesundheitsförderung in den Betrieben zu verbessern?
Absolut. Die Erkenntnisse sollen auch in die Ausbildung von Fachkräften durch die IUBH einfließen. Das Fernstudium, aus dem dieses Forschungsprojekt entstanden ist, bietet Berufstätigen die Möglichkeit, sich neben dem Beruf in Eigenregie akademisch zu qualifizieren. Im Bachelor und Master Gesundheitsmanagement studieren Fachkräfte, die bereits in Gesundheitsberufen wie auch der Altenpflege tätig sind. Sie können dabei helfen, Konzepte und Maßnahmen für mehr Gesundheitsförderung zu entwickeln, die dann der Praxis zur Verfügung gestellt werden. Mit der Unterstützung der Politik und von ver.di können wir die Ergebnisse viel stärker verbreiten.
Wie ist die Zeitschiene des Forschungsprojekts?
Die weltweite Corona-Pandemie hat auch unsere Pläne verschoben und viele Vorhaben der letzten Monate ausfallen lassen. Das Forschungsprojekt läuft seit Beginn dieses Jahres und ist auf zwei Jahre angelegt. Bis September gehen wir mit unserer Website online, auf der man sich über uns, unsere Ziele, die Umsetzung der Studie und dann auch über die Ergebnisse informieren kann. Wir nutzen auch die Sozialen Netzwerke, um das Projekt bekannt zu machen. In der zweiten Jahreshälfte 2020 entwickeln und programmieren wir die Befragung. Zugleich versuchen wir, Zugänge zu Arbeitnehmervertretungen und Unternehmen zu bekommen. Die Durchführung der Befragung ist für Anfang nächsten Jahres geplant, so dass wir die Ergebnisse hoffentlich im Herbst 2021 der Öffentlichkeit vorstellen können.