Im mittelhessischen Wetter ist normalerweise nicht viel los. Weniger als 9.000 Menschen leben in der Kleinstadt bei Marburg. Alle sieben Jahre findet das »Grenzgangfest« statt – das nächste Mal im Jahr 2022. Das war es. Und doch geschah am Frauentag, dem 8. März 2019, ausgerechnet hier Außergewöhnliches: Erstmals traten Beschäftigte einer diakonischen Einrichtung in Hessen in den Streik. Die Kolleginnen der Altenhilfe Wetter wehren sich dagegen, dass das jahrelang privatrechtlich organisierte Pflegeheim plötzlich der Diakonie Hessen beigetreten ist – was sowohl den Betriebsrat als auch Tarifverträge angeblich überflüssig macht.
Auch nach dem offiziellen Wechsel zur Diakonie geht es in der Altenhilfe Wetter nicht sonderlich christlich zu: Als Reaktion auf den Streikaufruf äußerte das Management nicht Verständnis und Respekt, sondern setzte auf Einschüchterung. Eine 40-jährige Altenpflegerin hat das nicht davon abgehalten mitzumachen. Jetzt steht sie mit ihren Kolleginnen vor der Einrichtung und sagt: »Wollen die uns alle kündigen? Dann können sie das Heim dichtmachen.« Als examinierte Pflegekraft könne sie ohnehin jederzeit einen anderen Job finden – mit besserer Bezahlung. Doch das will sie nicht. Sie arbeitet schon mehr als elf Jahre hier, hat die Bewohner*innen und ihre Kolleginnen und Kollegen schätzen gelernt. Statt zu gehen, kämpft sie für mehr Geld.
Die Pflegehelferin neben ihr hält ein Schild in die Höhe. »Früher brannten Hexen, heute brennen wir aus«, steht darauf – eine Anspielung auf den enormen Arbeitsdruck. Sie stellt klar, dass es nicht nur um die Löhne geht. »Die sind wie ein Bulldozer über uns drüber gefahren. Wo bleibt die Menschlichkeit?«, fragt die 27-Jährige. Noch während der Arbeitgeber im November mit ver.di über einen Tarifvertrag verhandelte, bereitete er den Beitritt zur Diakonie vor. Der Betriebsrat erfuhr erst Mitte Januar, dass er seit dem Jahreswechsel angeblich nicht mehr existiert. Gegen seine Auflösung will das Gremium juristisch vorgehen.
Eine 36-Jährige macht klar, wie wichtig die betriebliche Interessenvertretung ist, die erst vor etwa anderthalb Jahren ins Leben gerufen wurde. »Der Betriebsrat hat darauf geachtet, dass die Leute nicht mehr als 14 Tage oder drei Nächte am Stück arbeiten müssen – das war vorher anders.« Und seit Jahresbeginn agiert der Arbeitgeber so, als würde er es darauf anlegen, den Beschäftigten die Bedeutung ihrer Interessenvertretung noch einmal vor Augen zu führen. Einseitig und ohne jegliche Information zahlte er den Pflegekräfte zum Teil hunderte Überstunden aus. »Das haben wir erst auf dem Lohnzettel gesehen. Ich hätte lieber einen Freizeitausgleich gehabt, denn nach den Abzügen bleibt von dem Geld ohnehin nicht viel übrig«, kritisiert die Altenpflegerin. Statt des Betriebsrats soll es künftig eine kirchliche Mitarbeitervertretung geben. »Angeblich hat sie dieselben Rechte wie ein Betriebsrat, aber das stimmt gar nicht«, sagt die Kollegin.
Schon jetzt haben die Beschäftigten der Altenhilfe Wetter viel erreicht. Denn gegenüber dem bisherigen »Ersten Weg« – der einseitigen Festlegung von Löhnen und Arbeitsbedingungen – bedeutet die Anwendung der diakonischen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) zum Teil mehrere hundert Euro mehr im Monat. »Jahrelang hat der Arbeitgeber seinen Beschäftigten dies vorenthalten. Jetzt bekommen sie das Geld nur aus einem Grund: weil sie mit Streik gedroht haben«, erklärt Georg Schulze-Ziehaus, der bei ver.di in Hessen für das Gesundheitswesen zuständig ist. Doch zum einen lägen die AVR immer noch zwischen 4 und 16 Prozent unter dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD), den die Beschäftigten fordern. Zum anderen könnten die Gehälter in den AVR bei vermeintlichen Notlagen einseitig um ein Fünftel gekürzt werden. »Es kann sich also niemand darauf verlassen, dass er sein aktuelles Gehalt auch in zwei Monaten noch bekommt«, so der Gewerkschafter.
Dass sich die Kolleginnen in Wetter in dieser Situation zum Streik entschieden haben, hat ihnen eine Welle der Sympathie eingebracht. »Bei uns ist das Fax heiß gelaufen«, berichtet Schulze-Ziehaus. Seine Kollegin Saskia Jensch verliest eine Solidaritätsadresse nach der anderen, die sie in einem dicken Aktenordner abgeheftet hat. Auch vor Ort zeigt sich die Unterstützung. »Dass der Arbeitgeber mit üblen Winkelzügen versucht, euren Betriebsrat abzuwickeln, ist ein Skandal«, betont Alfred Grimm vom Gesamtausschuss der Mitarbeitervertretungen der Diakonie Hessen, der mit einer Reihe von Kolleg*innen aus anderen kirchlichen Einrichtungen nach Wetter gekommen ist.
Dass der Arbeitgeber in die Diakonie eingetreten sei, bedeute nicht, dass er keine Tarifverhandlungen führen könne, betont Grimm, der der Mitarbeitervertretung am Agaplesion Elisabethenstift Darmstadt angehört. So fänden in Hessen aktuell Verhandlungen zwischen diakonischen Pflegeeinrichtungen und ver.di über einen Tarifvertrag für die Altenpflege statt. Es sei zu hoffen, dass sich die Altenhilfe Wetter zumindest an diesen Tarifverhandlungen beteiligt, meint Susanne Berger vom Weilburg Stift im mittelhessischen Landkreis Limburg-Weilburg.
Ebenfalls solidarisch zeigen sich einige Angehörige, die trotz des Regens zur Kundgebung gekommen sind. »Die Pflegekräfte hier tun alles für die Bewohner, doch von ihrem Arbeitgeber wird das nicht gewürdigt«, sagt Annette Dege, deren Mutter bis November vergangenen Jahres in dem Pflegeheim war. »Wenn die Arbeitsbedingungen so schlecht sind, wirkt sich das auch auf die Versorgung aus«, ist sie überzeugt.
Der ver.di-Landesfachbereichsleiter Schulze-Ziehaus betont zum Abschluss der Aktion, die Beschäftigten diakonischer Einrichtungen hätten dieselben Rechte wie Kolleginnen und Kollegen bei anderen Trägern. »Deshalb ist das, was ihr tut, das Normalste der Welt: Ihr nehmt eurer Streikrecht wahr.« Die Altenpflegerinnen in Wetter haben jedenfalls einen Beitrag dazu geleistet, dass Streiks in kirchlichen Einrichtungen tatsächlich irgendwann zu einer Normalität werden könnten.
Landesfachbereichsleiter Hessen
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