Pflege

ver.di diskutiert die Pflegevollversicherung

02.09.2014

10 Gründe für die Pflegevollversicherung

1. Pflegebedürftige Menschen erhalten die qualitätsgesicherten Leistungen, die individuell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.

2. Die Angst, im Alter nicht gut versorgt zu sein, wird genommen.

3. Die eigenen Kinder und der Staat werden nicht mehr zur Finanzierung der Pflegekosten herangezogen, wenn das eigene Geld nicht ausreicht.

4. Pflegende Angehörige, Freunde und Nachbarn werden entlastet, weil professionelle Pflegekräfte ihre Aufgaben übernehmen können.

5. Weil mehr Hilfe und Unterstützung zu Hause in Anspruch genommen werden kann, wird es leichter möglich, in den eigenen vier Wänden alt zu werden.

6. Die individuelle private Vorsorge ist nicht mehr notwendig.

7. Zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze können entstehen.

8. Kommunen können das Geld, das sie heute für Hilfe zur Pflege aufwenden, in den Aufbau kommunaler Infrastruktur investieren.

9. Alle pflegebedürftigen Menschen profitieren, weil die Pflegevollversicherung solidarisch getragen wird und finanzierbar ist.

10. Und nicht zuletzt bleibt mehr von der Rente übrig, um auch bei Pflegebedürftigkeit sich den einen oder anderen Wunsch erfüllen zu können.

weiterführende Informationen

   

 
Pflege Pflegevollversicherung - Das Modell für die Zukunft

  

Interview mit Dietmar Erdmeier, ver.di-Bereich Gesundheitspolitik: Frauen profitieren besonders!

Es sind die Frauen, die pflegen – nicht die Männer. Frauen pflegen ihre Angehörigen und geben dafür ihren Beruf auf. Und es sind vor allem Frauen, die beruflich pflegen. Deshalb sind es auch die Frauen, die am meisten von einer Pflegevollversicherung profitieren, ist sich Dietmar Erdmeier vom Bereich Gesundheitspolitik beim ver.di-Bundesvorstand sicher. Was er genau damit meint, erklärt er in einem Gespräch mit verdi.de.

Die Frauen profitieren besonders von einer Pflegevollversicherung? Mehr als Männer?

Erdmeier: Genauso ist es. Denn derzeit ist es so, dass die Pflege nach wie vor von den Frauen geschultert wird. In der Regel sind sie es, die die Eltern, die Schwiegereltern oder auch die Geschwister pflegen. Es sind die Frauen, die beruflich kürzer treten, ganz zu Hause bleiben oder gar nicht erst wieder in den Beruf einsteigen – obwohl die Kinder aus dem Haus sind. Es sind überwiegend Frauen, die in Pflegeberufen arbeiten – nämlich 88 Prozent. Also sind es auch Frauen, die unter den hohen Arbeitsbelastungen leiden und kaum Aufstiegschancen haben. Und weil es ein typischer Frauenberuf ist, wird er auch bescheiden bezahlt. Denn Fähigkeiten wie Empathie – Grundvoraussetzung für diesen Beruf – werden nicht honoriert.

Aber das erklärt nicht, warum Frauen von der Pflegevollversicherung profitieren.

Erdmeier: Das alleine noch nicht. Aber es zeichnet sich ab, was die Folgen davon sind, dass Frauen pflegen. Denn als Konsequenz ihrer Pflegearbeit haben Frauen meist entweder gar keine eigene oder nur eine dürftige eigene Rente. Werden sie selbst pflegebedürftig, fehlen oft die pflegenden Angehörigen. Für eine häusliche Pflege haben sie nicht genug Geld, denn nur ein Teil der Pflegekosten wird derzeit von der Pflegeversicherung übernommen. Mit einer durchschnittlichen Rente von 495 Euro im Westen und 711 Euro im Osten sind die Frauen – wenn sie allein leben – Sozialhilfeempfänger. Sie werden nicht in ihrer vertrauten Umgebung bleiben, wenn sie pflegebedürftig sind.

Warum aber verbessert die Pflegevollversicherung die Lage der Frauen?

Erdmeier: Eine Pflegevollversicherung wird die Situation der Frauen deutlich verbessern, ihre Situation in der Zeit, in der sie pflegen – wenn sie überhaupt noch ihre Angehörigen rund um die Uhr versorgen. Eine Pflegevollversicherung setzt die Menschen in die Lage, Pflegedienste einzukaufen. Und wer beruflich pflegt, kann davon ausgehen, dass sich bei einer Pflegevollversicherung die Arbeitsbedingungen verbessern.

Woran krankt das derzeitige System?

Erdmeier: Die Pflegeversicherung ist schon immer nur als Teilversicherung angelegt. Das heißt: Die Pflegebedürftigen müssen einen beachtlichen Teil zuzahlen. Derzeit müssen sie sogar pflegebedingte Kosten übernehmen. Der Grund liegt darin, dass bis 2008 die Leistungen der Pflegeversicherung nicht dymanisiert wurden. Dann hat die Politik diesen Schritt getan, aber jeder, der es wissen will, weiß: Das, was gemacht wurde, reicht nicht. In der stationären Pflege übersteigt der Eigenanteil bereits die Leistungen der Pflegeversicherung. Und das bei den reinen Kosten für die Pflege, die vollständig von der Pflegeversicherung übernommen werden sollten. Hinzu kommt: Die Kommunen klagen über steigende Sozialkosten im Bereich Pflege. Erinnern wir uns, warum unter anderem die Pflegeversicherung eingeführt wurde: Die Kommunen mussten Jahr um Jahr höhere Sozialkosten aufbringen, weil immer mehr Rentner ihre Pflegekosten nicht bezahlen konnten und Sozialhilfe bezogen. Die Einführung der Pflegeversicherung brachte den Kommunen eine gewisse Erleichterung. Inzwischen aber haben wir die Situation, die bei Einführung der Pflegeversicherung die Politik zum Handeln zwang. Derzeit beziehen 440 000 Personen und damit zwei von fünf Heimbewohnern Hilfe zur Pflege. Pro Jahr bezahlen die Kommunen deshalb 3,1 Milliarden Euro. Und wie gesagt: Tendenz steigend.

Eine Pflegevollversicherung würde auch mehr Geld in das Pflegesystem bringen.

Erdmeier: Ja, das würde sie und das ist dringend notwendig. Denn der Anteil der Pflegebedürftigen wird steigen – nicht nur weil wir alle älter werden, was eine schöne Entwicklung ist. Sondern weil die Gesellschaft sich verändert.

Wie ist das gemeint?

Erdmeier: Heute werden viele Seniorinnen und Senioren noch von Angehörigen gepflegt. Doch das ist immer seltener möglich. Ein Grund dafür ist, dass viele keine Kinder haben, die sie pflegen könnten oder aber die Kinder leben weit weg in einer anderen Stadt. Sie sind nicht in der Lage, die Mutter oder den Vater in dessen Wohnung zu pflegen oder ihn zu sich zu holen. Die Statistik zeigt deutlich: Der Anteil der Singles unter den alten Menschen steigt Jahr um Jahr. Es braucht wenig Vorhersagekraft, um festzustellen, dass die wahren Herausforderungen der Pflege gerade auf uns zukommen: Die Zahl der Pflegebedürftigen wird steigen, immer weniger Pflegebedürftige werden von Angehörigen gepflegt werden können und es wird zu wenig Fachkräfte geben. Es ist längst fünf vor zwölf – höchste Zeit, dass die Weichen anders gestellt werden. Die Pflegevollversicherung wäre die richtige Weiche.

Was würde eine Pflegevollversicherung konkret bringen?

Erdmeier: Die Pflegeversicherung wie wir sie heute kennen, stößt immer mehr an diverse Grenzen. Schon heute klagen Angehörige, Pflegebedürftige wie Beschäftigte darüber, dass es Defizite bei der Versorgung gibt und dass oft schlecht gepflegt wird – weil die Beschäftigten schlicht keine Zeit haben, gut zu pflegen. Auf notwendige Leistungen gerade im ambulanten Bereich, muss heute oftmals verzichtet werden, da viele Pflegebedürftige einfach nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben, um die Rechnungen der Pflegedienste zu bezahlen. Die Pflegeversicherung übernimmt ja nur einen Teil der Kosten. Eine Pflegevollversicherung würde mehr Geld ins System bringen. Auch in die Ausbildung der Pflegekräfte. Zudem müssen mehr Pflegekräfte eingestellt werden, damit sich die Arbeitsbedingungen verbessern, damit mehr Zeit für die echte Pflege bleibt, damit endlich Pflege sich nicht mehr darauf beschränkt, dass die Pflegebedürftigen sauber und satt im Bett liegen.

Mehr Geld im System bedeutet aber nicht unbedingt eine Verbesserung der Pflege.

Erdmeier: Das stimmt. Aber ohne mehr Geld hat die Pflege keine Chance, sich zu verbessern. Doch wenn mehr Geld im System ist, müssen wir genau aufpassen, dass dieses Geld auch denen zugute kommt, denen es zugute kommen soll – den Pflegebedürftigen nämlich. Sie profitieren, wenn die Beschäftigten mehr Zeit für die echte Pflege haben oder wenn der Beruf so attraktiv ist, dass sich wieder viele junge Leute in der Pflege ausbilden lassen. Und machen wir uns nichts vor, eine gute Bezahlung ist das A und O eines attraktiven Berufes. Und in Hinsicht Bezahlung kann der Pflegeberuf derzeit nicht punkten.

Eine Pflegevollversicherung heißt: Die Beiträge werden steigen. Sind die Menschen dazu bereit?

Erdmeier: Ich denke schon, vorausgesetzt, die Pflegeversicherung bleibt auch weiterhin solidarisch finanziert, vorausgesetzt das Geld kommt wirklich den Pflegebedürftigen zugute – etwa, indem die Pflegebedürftigen tatsächlich mehr am öffentlichen Leben teilhaben können als es derzeit der Fall ist, und vorausgesetzt, die Arbeitsbedingungen verbessern sich. Sie werden nicht bereit sein, höhere Beiträge zu bezahlen, wenn das Geld lediglich die Gewinne der Heimkonzerne vergrößert. Natürlich soll nur das von der Solidargemeinschaft finanziert werden, was notwendig, wirtschaftlich und zweckmäßig ist. Es geht nicht darum, Luxus zu finanzieren. Die Pflegevollversicherung lässt sich gut mit der Bürgerversicherung verbinden, womit die Pflegeversicherung auf eine breitere Einnahmebasis gestellt werden kann. Aber wenn die Menschen sicher sind, dass sie – wenn sie pflegebedürftig werden – auch gut versorgt sind, werden sie höhere Beiträge akzeptieren. Da bin ich mir ganz sicher. Und man muss auch Folgendes sehen: Mit der Diskussion über die Pflegevollversicherung hat ver.di auch eine Diskussion darüber eröffnet, welche Leistungen die Gesellschaft von morgen braucht, Leistungen, die solidarisch erbracht werden müssen. Die Pflegevollversicherung ist das Modell für die Zukunft.

Fragen: Jana Bender/August 2014