Faktenblatt Behindertenhilfe

01.12.2021

Die 8.114 von Wissenschaftler*innen der TU Darmstadt zwischen Juni und August 2021 befragten Beschäftigten der Behindertenhilfe bilden ein breites Spektrum von Berufen und Betrieben ab. Etwa 22 Prozent sind Heilerziehungspfleger*innen, gut 15 Prozent Sozialarbeiter*innen, über 13 Prozent Erzieher*innen und knapp 11 Prozent Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung. Rund 42 Prozent arbeiten im Wohnbereich, etwa ein Viertel in Werkstätten für behinderte Menschen. Weitere Befragte sind in Tagesförderstätten, in der Kindertagesbetreuung, der Frühförderung, der Schulassistenz und anderen Bereichen tätig. Jeweils etwa ein Drittel ist in einer kirchlichen oder freigemeinnützigen Einrichtung angestellt, rund 18 Prozent im öffentlichen Dienst, allerdings nur drei Prozent bei privaten Unternehmen. Nicht-kommerzielle Einrichtungen sind damit ebenso überrepräsentiert wie Großbetriebe, was die Ergebnisse in Bezug Bezahlung und Arbeitsbelastung eher positiv beeinflussen dürfte. Erstellt wurde die Befragung im Rahmen einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Branchenstudie. Hier werden vorab erste Ergebnisse präsentiert.

 

Auf einen Blick:

  • Die Arbeitszeiten sind in hohem Maß entgrenzt, insbesondere im Wohnbereich. 36,4 % der Beschäftigten im Wohnbereich arbeiten gelegentlich oder regelmäßig in geteilten Diensten.

  • Es fehlt an Personal. 48,4 % der Beschäftigten denken darüber nach, ihren Job aufzugeben.

  • Die Belastung ist hoch. 60,8 % sind in den vergangenen zwölf Monaten krank zur Arbeit gegangen.

  • Die Versorgungsqualität leidet. Nur 21,2 % der Beschäftigten haben genug Zeit, um auf Bedarfe und Anforderungen von Klient*innen eingehen zu können.

  • Gewalt ist ein wichtiges Thema. 10,1 % der Beschäftigten erleben täglich Beschimpfungen und 5,7 % körperliche Übergriffe gegen sich selbst.

  • Anforderungen an die Beschäftigten wachsen. 79,7 % berichten von zusätzlichen Anforderungen an ihre Arbeit infolge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG).

  • Das Einkommen ist unangemessen. 77,3 % halten ihr Einkommen nur in geringem Maß oder gar nicht für angemessen.

 

Arbeitszeiten entgrenzt

Arbeitszeiten entgrenzt

Beschäftigte in der Behindertenhilfe sind flächendeckend mit Übergriffen auf ihre freie Zeit konfrontiert. Nur gut ein Viertel muss keine Über-stunden oder Mehrarbeit leisten. Rund zwei Drittel werden auch in ihrer Freizeit von Klient*innen oder Vorgesetzten kontaktiert. Über die Hälfte wird ab und zu oder regelmäßig aufgefordert, außerhalb des Dienstplans einzuspringen. Besonders dramatisch ist die Entgrenzung zwischen Berufs- und Privatleben im Wohnbereich. Hier muss ohnehin sehr oft zu ungünstigen Zeiten gearbeitet werden: Gut 77 Prozent haben Schichtdienst, 85 Prozent müssen auch an Wochenenden und über 35 Prozent auch nachts arbeiten. Für die Mehrheit der Beschäftigten im Wohnbereich ist der Arbeitstag länger als acht Stunden. 36,4 Prozent haben gelegentlich oder regelmäßig geteilte Dienste: Sie müssen mehrfach am Tag im Betrieb zur Verfügung stehen, wenn viel zu tun ist. Wie soll da ein geregeltes Familien- und Sozialleben möglich sein?

 

Personal fehlt

Personal fehlt

Wie in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit fehlt es in der Behindertenhilfe an Kolleginnen und Kollegen. Weniger als ein Viertel der Beschäftigten hält die bestehende Personalausstattung für angemessen. Das wirkt sich messbar auf die eigene Arbeitssituation und -zufriedenheit aus. Etwa 60 Prozent berichten, dass in ihrer Einrichtung zunehmend Personal ohne einschlägige Ausbildung eingesetzt wird. Zwei Drittel arbeiten (teilweise) allein, für gut 30 Prozent ist das der Regelfall. Dabei kann es zu Überforderung und Gefährdungen kommen.

Das Arbeitskräftepotenzial, mit dem bessere Bedingungen geschaffen werden könnten, ist durchaus vorhanden. So liegt der Anteil der Teilzeitkräfte bei etwa 47 Prozent, im Wohnbereich sogar bei 55 Prozent. Über 20 Prozent von ihnen würden ihre vertragliche Arbeitszeit gerne aufstocken – wenn sie ein entsprechendes Vertragsangebot erhalten würden. Zugleich denkt fast die Hälfte aller Beschäftigten in der Behindertenhilfe darüber nach, ihren Job aufzugeben. Zum Vergleich: Im Durchschnitt aller Berufsgruppen gilt das laut DGB-Index Gute Arbeit für weniger als ein Fünftel. Berufsflucht und erzwungene Teilzeitarbeit verschärfen die Personalnot – ein Teufelskreis.

 

Belastung hoch

Belastung hoch

Zentrale Ursache für die hohe Arbeitsbelastung in der Behindertenhilfe ist der Personalmangel. Beschäftigte gehen an ihre Grenzen und darüber hinaus, um ihre Klient*innen dennoch gut zu versorgen und ihre Kolleg*innen zu unterstützen. Etwa drei von vier Beschäftigten können ihre gesetzlich vorgeschriebene Erholungspause teilweise oder häufig nicht ungestört nehmen. Knapp 80 Prozent fühlen sich bei der Arbeit gehetzt oder stehen unter Zeitdruck. In den Werkstätten für behinderte Menschen äußert sich der hohe Arbeitsdruck in dem Widerspruch zwischen Anforderungen der Produktion und Bedürfnissen der behinderten Menschen. 85 Prozent berichten, dass sie ihrem Förderauftrag nicht immer gerecht werden können, weil der Erfüllung von Produktionsaufträgen Vorrang eingeräumt wird. Über 60 Prozent aller Befragten aus der Behindertenhilfe ist in den vergangen zwölf Monaten krank zur Arbeit gegangen – und riskiert damit für den Beruf die eigene Gesundheit.

 

Versorgungsqualität leidet

Versorgungsqualität leidet

Personalnot und Überlastung wirken sich negativ auf die Versorgungsqualität aus. So berichten nur 21 Prozent der Befragten, dass sie genug Zeit haben, auf Bedarfe und Anforderungen von Klient*innen eingehen zu können. Gerade das ist aber zentral, sollen die Ansprüche auf Inklusion und Teilhabe erfüllt werden. Doch nur gut ein Viertel der Beschäftigten hat genug Zeit für Beziehungsarbeit, also zum Beispiel für Gespräche mit Klientinnen und Klienten. Noch weniger haben im Bedarfsfall die Möglichkeit für eine Eins-zu-Eins-Betreuung, zum Beispiel um Klient*innen in Krisensituationen zu unterstützen. Auch für Kommunikation unter den Beschäftigten und die eigene Weiterentwicklung fehlt es oft an Zeit. So berichtet etwa ein Drittel der Befragten, dass die Beratung im Team zu kurz kommt. Ein weiteres Drittel sieht das zumindest teilweise so. Angebote für Supervision halten nur 22,7 Prozent der Befragten für ausreichend. Noch weniger meinen, dass in ihrer Einrichtung genug Zeit für die Anleitung und Begleitung von Auszubildenden zur Verfügung steht. All das beeinträchtigt letztlich auch die Qualität der Versorgung.

 

Gewalt häufig

Gewalt häufig

Ausreichendes Personal und gute Arbeitsbedingungen ermöglichen es, auf die individuellen Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten einzugehen. Das ist oft auch ein Faktor zur Vermeidung von Gewalt, der die Beschäftigten in der Behindertenhilfe in erheblichem Maß ausgesetzt sind. Bei weniger als acht Prozent der Befragten kommt es nie zu verbalen Auseinandersetzungen mit Klient*innen. Drei Viertel von ihnen erleben im Rahmen ihrer Arbeit gegen sich selbst gerichtete Beschimpfungen. Bei etwa 20 Prozent kommt das mindestens einmal in der Woche, bei weiteren zehn Prozent täglich vor. Die große Mehrheit der befragten Beschäftigten hat zudem bereits körperliche Übergriffe erlebt. Bei jeweils etwa neun Prozent geschieht das mindestens einmal wöchentlich bzw. monatlich. Knapp sechs Prozent sind täglich körperlichen Übergriffen ausgesetzt. Gerade hier gilt es, Alleinarbeit zu vermeiden und im Bedarfsfall genug Zeit für eine Eins-zu-Eins-Betreuung zu haben, mit der manche Situationen deeskaliert werden können.

 

Anforderungen wachsen

Anforderungen wachsen

Die Behindertenhilfe befindet sich in einem grundlegenden Transformationsprozess. Ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention sollen Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft ermöglicht werden. Doch zugleich sollen die Kosten mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) begrenzt und sogar gesenkt werden. Den Beschäftigten stellen sich durch diese Konstellation eine Vielzahl neuer Herausforderungen, die sie auch als zusätzliche Belastungen erleben. So berichten fast 80 Prozent der Befragten, dass die Anforderungen an ihre Arbeit infolge der Umsetzung des BTHG zugenommen haben. Zugleich stimmt immerhin ein Viertel der Aussage (überhaupt) nicht zu, ihre Arbeit verändere sich, weil die Selbstbestimmung der Klient*innen gestärkt werde. Bei einem Teil wirkt sich die zunehmende Ambulantisierung von Leistungen aus: Gut ein Drittel der Kolleg*innen berichtet, dass sie zunehmend nicht mehr an einem festen Ort, sondern an unterschiedlichen Einsatzorten tätig sind. Neben zusätzlichen Belastungen kann das auch eine finanzielle Verschlechterung bedeuten, weil die Heimzulage im Wohnbereich gegebenenfalls nicht mehr gezahlt wird.

 

Einkommen unangemessen

Einkommen unangemessen

Nur knapp 23 Prozent der Befragten halten ihr Gehalt für angemessen – weniger als halb so viele wie im Durchschnitt aller Beschäftigten, von denen laut DGB-Index Gute Arbeit 2020 rund 60 Prozent ihre Bezahlung als angemessen empfinden. In der Behindertenhilfe meinen über 56 Prozent, dass dies in geringem Maß und gut 20 Prozent, dass dies gar nicht der Fall ist. Damit machen die Beschäftigten in den Teilhabe- und Inklusionsdiensten deutlich, dass sie eine finanzielle Aufwertung ihrer Berufe für geboten halten.
Insbesondere angesichts der hohen und wachsenden Anforderungen, der großen Belastung und Verantwortung sowie im Vergleich zu Berufen in der Industrie ist eine bessere Bezahlung für die Beschäftigten der Teilhabe- und Inklusionsdienste nötig. Dafür setzen sich die Beschäftigten des Sozial- und Erziehungsdienstes mit ihrer Gewerkschaft ver.di ein.

 


Konsequenzen ziehen

Die Ergebnisse der Befragung machen deutlich, wo in der Behindertenhilfe der Schuh drückt. Die Arbeitsbedingungen in den Teilhabe- und Inklusionsdiensten müssen sich verbessern. Nur so können die Beschäftigten den gestiegenen Anforderungen gerecht werden und zugleich ihre Gesundheit schützen. Zentral ist die Einführung bedarfsgerechter Personalvorgaben. Mit besseren Arbeitsbedingungen können die dafür nötigen Arbeitskräfte gewonnen und dauerhaft im Beruf gehalten werden. Teilzeitkräfte müssen entsprechende Angebote zur Aufstockung ihrer vertraglichen Arbeitszeiten erhalten. Auch die Ausbildungsbedingungen müssen attraktiver werden. So fordert ver.di, dass Schulgeld und andere Ausbildungsgebühren in der Heilerziehungspflege abgeschafft werden und Auszubildende einen gesetzlichen Anspruch auf angemessene Ausbildungsvergütung erhalten. Gemeinsam mit den Beschäftigten aller Sozial- und Erziehungsberufe macht sich ver.di für eine finanzielle Aufwertung und Entlastung stark. Macht mit!

 

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  • Sarah Bormann

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