Eine solche Resonanz hatte die ver.di-Fachtagung Behindertenhilfe noch nie: Fast 200 Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertreter*innen waren am 12. und 13. September nach Weimar gekommen, um über die neuesten Entwicklungen in diesem Bereich zu sprechen. Und es gab jede Menge Gesprächsbedarf, aber auch Verunsicherung. Denn Ende 2020 tritt die dritte Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft, womit ganz neue Leistungsgrundsätze geschaffen werden. Was das für Einrichtungen und Beschäftigte bedeutet, ist vielfach noch unklar. Sicher ist: Die Auswirkungen werden gravierend sein, da die Finanzierungssystematik komplett umgestellt wird. Zugleich wurde auf der Tagung klar: ver.di und die betrieblichen Interessenvertretungen wollen sich einmischen – im Sinne guter Arbeitsbedingungen, tariflicher Bezahlung und einer guten Versorgung behinderter Menschen.
»Das alte Recht endet am 31. Dezember«, stellte die Politik- und Erziehungswissenschaftlerin Petra Kaps vom Zentrum für Evaluation und Politikberatung (ZEP) klar. Ab dem 1. Januar 2020 müssen Fachleistungen und Leistungen zur Existenzsicherung für Menschen mit Behinderungen getrennt behandelt werden. Das ist insbesondere für stationäre Einrichtungen eine große Herausforderung. Die Berichte der in Weimar versammelten Interessenvertreter*innen machten deutlich, dass längst nicht alle Einrichtungsleitungen darauf adäquat vorbereitet sind – und viele Belegschaften über anstehende Veränderungen im Unklaren gelassen werden.
Zentral für den neuen Ansatz ist die aus der UN-Behindertenrechtskonvention entnommene, sogenannte Personenzentrierung: Leistungen sollen sich künftig nach den individuellen Wünschen und Bedürfnissen behinderter Menschen richten, nicht nach der Logik von Institutionen. Entsprechend ändert sich die Finanzierung. Die Crux an der Sache: Es soll auch noch billiger werden. Das Hauptinteresse, das abgesehen von der Umsetzung der UN-Konvention mit dem Bundesteilhabegesetz verfolgt worden sei, sei »ganz klar das Interesse der Kostenträger« gewesen, erläuterte Kaps.
Deutliche Kritik hatte ver.di im Gesetzgebungsprozess an der sogenannten Wettbewerbsklausel, dem »externen Vergleich«, vorgebracht. Demnach werden Leistungserbringer, deren Vergütungssätze über dem unteren Drittel der Anbieter liegen, im Regelfall als »nicht wirtschaftlich« angesehen. Die Politikwissenschaftlerin Kaps verwies in diesem Zusammenhang aber darauf, dass höhere Preise aufgrund von Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien davon explizit ausgenommen sind. »Anbieter mit Tarifbindung dürfen also nicht benachteiligt werden.«
Mehrere der anwesenden Interessenvertreter*innen gaben allerdings zu bedenken, dass damit nicht klargestellt sei, welche Tarifverträge zur Anwendung kommen. So berichtete Dorothee Bosch, Mitarbeitervertreterin Mariaberg e.V., dass in ihrem Betrieb ganz unterschiedliche Regelungen gelten: Ein Teil der Beschäftigten werde nach den Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) der Diakonie Württemberg bezahlt, die auf dem Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) liegen, für andere gelten die schlechteren AVR der Diakonie Deutschland. Bergs Schlussfolgerung: »Damit es nicht zu einer Konkurrenz zwischen den Tarifen kommt, müssen wir mit ver.di dringend dafür sorgen, dass der TVöD flächendeckend Standard in der Behindertenhilfe wird.«
Christian Janßen von der Gesamt-Mitarbeitervertretung der Von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel ordnete die Entwicklung in eine »neoliberale Politik von Ökonomisierung und Vermarktlichung« ein, die seit über 20 Jahren auch das Gesundheits- und Sozialwesen ergriffen habe und bei der die »Kostendämpfung« im Vordergrund stehe. »Bei einem Personalkostenanteil von 70 Prozent ist klar, dass das immer zu Lasten der Beschäftigten geht.« Die Folgen seien unzureichende Personalschlüssel und Arbeitsverdichtung ebenso wie eine Zunahme prekärer und schlecht entlohnter Beschäftigung.
Dazu gehört auch die Aufspaltung und Dequalifizierung von Tätigkeiten in der Behindertenhilfe die – so die Befürchtung vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Weimarer Tagung – mit der Umsetzung des BTHG einen neuen Schub erhalten könnte. »Ökonomisierung und Bürokratie reduzieren die Empathie in menschlichen Beziehungen, die rigorosem Effizienzdruck ausgesetzt werden«, warnte Janßen. »Wir reden von Kunden, Leistungsoptimierung und Effizienzrenditen. Und wenn wir so sprechen, werden wir irgendwann auch so denken, fühlen und handeln.«
Der Behindertenbeauftragte des Landes Bremen, Joachim Steinbrück, erklärte, im Bundesteilhabegesetz steckten nicht nur Probleme, sondern auch Chancen. Stehe das Wunsch- und Wahlrecht behinderter Menschen im Vordergrund, müsse das nicht automatisch eine Abqualifizierung von Beschäftigten bedeuten. »Zum Beispiel geistig beeinträchtigten Menschen eine assistierte Entscheidungsfindung zu ermöglichen, ist sehr anspruchsvoll – viel anspruchsvoller als selbst alles vorzugeben.« Er hob hervor, dass auch Menschen mit Behinderung ein hohes Interesse daran haben, dass ihre professionellen Betreuer gute Arbeitsbedingungen haben und gut bezahlt werden.
»Wir erbringen hoch qualifizierte Tätigkeiten«, bekräftigte Christine Rapp, Betriebsrätin bei Leben mit Behinderung Hamburg. Die verbreitete Vorstellung, jede*r könne eine solche Arbeit machen, sei falsch. Die rund 500.000 Beschäftigten der Behindertenhilfe sollten sichtbarer werden und selbstbewusst klar machen: »Wir sichern Menschenrechte«, so die Gewerkschafterin.
Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand hob ebenfalls die hohen Ansprüche an die Arbeit in der Behindertenhilfe hervor. »Arbeit mit, am und für den Menschen kann niemals niedrigstqualifizierte Tätigkeit sein«, betonte die Leiterin des ver.di-Bundesfachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen. Eine solche »Interaktionsarbeit« sei stets mit besonderen Anforderungen verbunden und müsse entsprechend honoriert werden. Die Arbeitgeber in der Behindertenhilfe forderte Bühler auf, »ein Kartell zu bilden«. Sie sollten nicht den Fehler der Träger in der Altenhilfe wiederholen und sich auf einen Unterbietungswettbewerb bei Löhnen und Arbeitsbedingungen einlassen.
Eine Konkurrenz um den niedrigsten Preis lehnte auch der Geschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen, Holger Stolz, entschieden ab. Er sehe »große Schnittmengen« zwischen den Anliegen der Gewerkschaft, der betrieblichen Interessenvertretungen und der Träger. Stolz forderte die Teilnehmer*innen der Tagung auf, auf die Erstellung der Landesrahmenverträge in den Bundesländern Einfluss zu nehmen. Dies sei auch der schnellste Weg, personelle Standards festzuschreiben. In der Diskussion hatten mehrere Mitarbeitervertreter*innen und Betriebsräte gefordert, nach dem Vorbild der Krankenhäuser auch in der Behindertenhilfe eine Diskussion über eine gesetzliche Personalbemessung anzustoßen.
Der Heilerziehungspfleger Jochen Dürr, Mitarbeitervertreter im Sonnenhof e.V. in Schwäbisch-Hall, betonte, solche und andere Forderungen könnten nur mit einer starken Gewerkschaft wirksam vertreten werden. Er forderte seine Kolleginnen und Kollegen auf, sich in ver.di zu organisieren. So könnten sich die Beschäftigten der Behindertenhilfe – die in den öffentlichen Debatten sonst oft eher am Rand stehen – Gehör verschaffen.
Quo vadis Behindertenhilfe?
Neue Anforderungen und der Trend zur Ökonomisierung in der Behindertenhilfe
Vortrag von Christian Janßen, Dipl. Psychologe, PP, Vorsitzender der Gesamt-MAV der Stiftung Bethel in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld
Das Bundesteilhabegesetz auf Länderebene
Vortrag von Petra Kaps, M. A. Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft, Partnerin des ZEP – Zentrum für Evaluation und Politikberatung
Über welche rechtlichen Möglichkeiten verfügen betriebliche Interessenvertretungen, um auf die Arbeitsbedingungen Einfluss auszuüben – und wie setzen sie dies um?
Vortrag von Jana Wömpner, Rechtsanwältin, Anwaltskanzlei Gussone - Lewek - Kenkel
Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste
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