Seit fast sieben Jahren streitet Harald Reutershahn dafür, seine Beschäftigten nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) bezahlen zu können. Diese arbeiten als Persönliche Assistent*innen im sogenannten Arbeitgebermodell für den 65-Jährigen, der aufgrund einer Behinderung rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen ist. Doch die Stadt Frankfurt am Main, die die Persönliche Assistenz finanziert, setzt alles daran, die Bezahlung von Tariflöhnen zu verhindern – obwohl sie dies beim örtlichen Assistenzbetrieb, dem Club Behinderter und ihrer Freunde (CeBeeF), längst tut. Die Stadt hat das Verfahren so lange verzögert, dass das Frankfurter Sozialgericht die Klage auf Nachzahlung von Tariflöhnen am Montag (16. September 2019) abwies – wegen »Verjährung«.
»Sowohl ich als auch meine Beschäftigten leiden darunter, dass ich ihnen keine angemessenen Löhne bezahlen kann«, erklärte Reutershahn bei der mündlichen Verhandlung. Qualifizierte und zuverlässige Assistent*innen für einen Stundenlohn zwischen 11,50 und 12,00 Euro zu finden, sei in einer Stadt wie Frankfurt mit ihren hohen Mieten und Lebenshaltungskosten extrem schwierig. Diejenigen, die ihn dennoch im Alltag unterstützen, seien zum Teil auf Zweit- und Drittjobs angewiesen, um über die Runden zu kommen.
Im Sommer 2012 hatten die Beschäftigten des CeBeeF einen Tarifvertrag erkämpft, mit dem die Bezahlung auf das Niveau des Flächentarifs für den öffentlichen Dienst, des TVöD, angehoben wurde. Bereits am 1. März 2012 hatte die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung beschlossen, dass von der Stadt veranlasste Leistungen generell unter Tarifbedingungen erbracht werden müssen. Doch die Verwaltung beharrt darauf, dass dies nur für von der Stadt unmittelbar beauftragte Unternehmen gilt, nicht aber im sogenannten Arbeitgebermodell, bei dem behinderte Menschen selbst Persönliche Assistent*innen beschäftigen. Dieses Modell hat für die Betroffenen den Vorteil, dass sie selbstbestimmter entscheiden können, wer sie unterstützt. Für die Sozialkassen ist das sogar billiger – selbst wenn die Beschäftigten ebenfalls Tariflöhne bekämen. »Beim CeBeeF zahlt die Stadt für eine 24-Stunden-Betreuung monatlich rund 25.000 Euro, an mich müsste sie nur knapp 18.000 Euro bezahlen, weil ich Buchhaltung, Verwaltung etc. unentgeltlich selbst mache«, rechnete Reutershahn vor. »Es entstehen also keine unverhältnismäßigen Mehrkosten – im Gegenteil: Die Stadt spart jeden Monat fast 8.000 Euro.«
Tatsächlich erhält Reutershahn aber lediglich knapp 11.000 Euro, weshalb er seinen Assistent*innen nur »Dumpinglöhne« zahlen könne, so der überzeugte Gewerkschafter. Alle seine Beschäftigten sind Mitglied von ver.di, sie haben eine Tarifkommission gewählt und die Gewerkschaft hat mit Reutershahn einen Anwendungstarifvertrag zum TVöD geschlossen, den die Beschäftigten ihm gegenüber geltend machen. Doch die Stadt Frankfurt setzt offenbar alles daran, eine Entscheidung in der Sache und damit eine tarifliche Vergütung zu verhindern – mit reichlich zynischen Tricks: Als Reutershahn Widerspruch gegen den Bescheid einlegte, reagierte sie einfach nicht. Erst nach einer erfolgreichen Untätigkeitsklage bequemte sich die Stadt dazu, den Widerspruch abzulehnen, so dass Reutershahn erst 2014 Klage einreichen konnte. Das Sozialgericht brauchte weitere fünf Jahre, um den Fall zur Anhörung zu bringen – wegen »massiver Altfallprobleme«, wie die Vorsitzende Richterin Annett Wunder auf Nachfrage erklärte.
Den Schaden aus diesen Verzögerungen hat der Kläger: Wegen der allgemeinen Verjährungsfrist von drei Jahren – der beklagte Bescheid betrifft die Zeit zwischen November 2012 und Oktober 2013 – müsse die Kammer die Klage zurückweisen, erklärte Wunder bei der Urteilsverkündung. Das sei »ein sehr formeller Grund« für »eine schwere Entscheidung«, mit der die Kammer »nicht zufrieden« sei, so die Richterin.
Dem Kläger und seinen Assistent*innen hilft dieses Bedauern wenig. »Die Stadt hat auf Zeit gespielt und gewonnen«, stellte Reutershahn fest. »Sie selbst hat die Verzögerungen herbeigeführt, von denen sie jetzt profitiert. Das ist blanker Zynismus.« Doch auch davon will sich Reutershahn nicht unterkriegen lassen. »Ich werde so lange keine Ruhe geben, bis das gewerkschaftliche Tarifrecht für meine Beschäftigten durchgesetzt ist«, kündigte er an. »Wir haben nur eine Etappe verloren, aber die Auseinandersetzung geht weiter.« Wie sie weiter vorgehen wollen, werden er und seine Mitstreiter*innen entscheiden, sobald das schriftliche Urteil vorliegt.
»Die Stadt hat durch Amtsverschleppung eine Verjährung herbeigeführt – das ist schon ein starkes Stück«, kritisierte der ver.di-Sekretär Andreas Heymann. Das habe vermutlich auch mit den weitreichenden Auswirkungen eines für den Kläger positiven Urteils zu tun. »Dann hätten alle Menschen, die Persönliche Assistenten im Arbeitgebermodell beschäftigten, die Möglichkeit, diesen Tariflöhne anzubieten«, erklärte der Gewerkschafter. Allein in der Rhein-Main-Region würden davon mindestens 72 Assistenznehmer*innen und deren etwa 320 Beschäftigten profitieren. Bundesweit dürften es also einige tausend Kolleginnen und Kollegen sein, denen die tarifliche Bezahlung vorenthalten wird – mit allen Konsequenzen, die das für sie und für die auf zuverlässige Betreuung angewiesenen Menschen hat.
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