»Wer sich organisiert und zusammen für die eigenen Interessen aktiv wird, kann ganz schön viel erreichen.« Das ist die zentrale Schlussfolgerung, die Michael Teumer aus der langjährigen Tarifauseinandersetzung beim ambulante Dienste e.V. (ad) und der Neue Lebenswege GmbH (nlw) in Berlin zieht. Rückwirkend zum 1. Juli 2019 werden er und seine insgesamt fast 1.000 Kolleginnen und Kollegen in beiden Gesellschaften erstmals nach Tarifvertrag bezahlt. Die Einkommen der Persönlichen Assistent*innen, Sozialarbeiter*innen, Pflege- und Bürokräfte steigen dadurch zumeist um zweistellige Prozentbeträge. Erreicht haben sie das gemeinsam – obwohl sie einander im Arbeitsalltag kaum begegnen.
Entstanden aus der »Krüppelbewegung« der 1970er Jahre soll die Persönliche Assistenz schwer behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben in ihrem Zuhause ermöglichen. Einige Persönliche Assistent*innen sind im sogenannten Arbeitgebermodell direkt bei dem behinderten Menschen angestellt, die meisten arbeiten aber bei freien Trägern. Tarifverträge haben hier Seltenheitswert. Lediglich in Hamburg, Bremen und Frankfurt am Main haben Beschäftigte von Assistenzbetrieben bisher eine tarifvertragliche Bezahlung durchgesetzt – und nun auch in Berlin.
»Einige von uns waren schon lange überzeugte Gewerkschafter und der Meinung, dass wir Tarifverträge brauchen«, berichtet Teumer, der als Persönlicher Assistent bei ad arbeitet und in der ver.di-Tarifkommission aktiv ist. Immer wieder machten sie dies bei Betriebsversammlungen und Teambesprechungen zum Thema, richteten eine Website und diverse Chatgruppen ein. »Entscheidend aber waren die vielen persönlichen Gespräche und Diskussionen«, betont der 35-Jährige. Diese zu führen, ist in einem Assistenzbetrieb allerdings gar nicht einfach. Denn die Beschäftigten arbeiten alleine und sehen sich selten. Wichtig ist daher ein regelmäßiger Treffpunkt: Einmal im Monat kommen die Aktiven zur gemeinsamen ver.di-Betriebsgruppe von ad und nlw zusammen.
Dort wurde lang und intensiv über die Forderungen diskutiert. »Zentral war für uns eine Eingruppierung, die dieser anspruchsvollen Tätigkeit angemessen ist«, erläutert Teumer. »Das ist aus unserer Sicht mindestens die Entgeltgruppe 5 im Tarifvertrag der Länder.« In den Flächentarifverträgen gibt es bislang keine Regeln zur Eingruppierung der Persönlichen Assistent*innen. Diese müssen zwar nicht über eine formale Qualifikation verfügen, brauchen aber eine Vielzahl von Kompetenzen, um die Assistenznehmer*innen in unterschiedlichen Situationen adäquat unterstützen zu können. »Man muss sozial-kommunikative Fähigkeiten haben, pflegerische Tätigkeiten ausüben, planen können, emphatisch sein und vieles mehr. Das muss sich in der Eingruppierung abbilden«, betont Teumer. »Und das haben wir auch erreicht.« Die Haustarifverträge beider Gesellschaften, die Ende April bzw. Mitte Mai 2020 unterzeichnet wurden, sehen für Persönliche Assistent*innen die Entgeltgruppe 5 vor. Das bedeutet je nach Erfahrungsstufe in etwa einen Bruttolohn zwischen 2.500 und 3.100 Euro im Monat, plus Zuschläge von 400 bis 500 Euro. Auch alle anderen Beschäftigten werden deutlich besser bezahlt als bisher.
Ericka Reikowski, die als Persönliche Assistentin bei der Neue Lebenswege GmbH arbeitet, freut sich auch über die vielen weiteren Verbesserungen, die die Angleichung an den Länder-Tarifvertrag (TV-L) mit sich bringt. So erhalten die Beschäftigten unter anderem die im öffentlichen Dienst geltende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Zulagen für Schichtarbeit und Arbeit zu ungünstigen Zeiten, Überstundenzuschläge, Sterbegeld, eine Jahressonderzahlung sowie sechs Wochen Jahresurlaub. Sachgrundlose Befristungen sind laut Tarifvertrag künftig ausgeschlossen, sofern die betriebliche Interessenvertretung nicht ausdrücklich zustimmt. »Zudem bekommen wir für Arbeit an gesetzlichen Feiertagen nun einen Freizeitausgleich. Dadurch haben wir jährlich insgesamt über 20 freie Tage mehr – das ist gerade für Ältere unfassbar wichtig«, sagt die 53-Jährige, die sich ebenfalls in der ver.di-Tarifkommission engagiert.
Den Tariferfolg führt sie vor allem darauf zurück, dass die Beschäftigten »dran geblieben« sind. Denn immer wieder hatte sich der Tarifabschluss verzögert – auch nachdem Land und Pflegekassen die Refinanzierung der tariflichen Bezahlung im Mai 2019 zugesagt hatten. Außergewöhnlich war, dass Mitglieder der ver.di-Tarifkommission an den Verhandlungen mit den Kostenträgern direkt teilnehmen konnten. »Das war uns sehr wichtig, denn so wussten wir genau, wie sich die Beteiligten verhalten und an welchen Stellen wir Druck machen müssen«, erklärt Teumer. Zum Beispiel kündigten die Beschäftigten eine Kundgebung vor der Zentrale der AOK Nordost an, als diese längere Zeit nicht reagierte, und erreichten so ein Entgegenkommen.
Auch sonst setzten die ver.di-Aktiven auf die Einbeziehung und Mobilisierung ihrer Kolleg*innen. Diese wurden zu den Forderungen und ihrer Streikbereitschaft befragt und immer wieder zu Protesten aufgerufen – zum Beispiel zu einer Foto-Aktion und einer Fahrraddemo. Bei einer Betriebsversammlung und einer Podiumsdiskussion konfrontierten sie die politisch Verantwortlichen mit ihren Anliegen. Der Berliner Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Alexander Fischer (Die Linke), positionierte sich öffentlich für einen Tarifvertrag. »Das war für uns eine Ermutigung und hat die Dinge in Bewegung gebracht«, blickt Teumer zurück.
Entscheidend war aus seiner Sicht jedoch, dass sich viele Kolleg*innen engagiert und gewerkschaftlich organisiert haben. Mittlerweile ist fast jede*r dritte Beschäftigte ver.di-Mitglied. »Trotz der Vereinzelung im Arbeitsalltag ist es möglich, sich zusammenzutun und gemeinsame Ziele durchzusetzen«, so Teumers Fazit. »Es war ein langer Weg, aber er hat sich gelohnt.«
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