Richtiger Paradigmenwechsel

Werkstätten für Menschen mit Behinderung sollen stärker auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermitteln. Das setzt genug qualifiziertes Personal voraus.
19.02.2024

Katharina Lammers hat 22 Jahre in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung gearbeitet und ist jetzt bei der Einheitlichen Ansprechstelle für Arbeitgeber (EAA) in Bremen tätig. Sie ist stellvertretende Sprecherin der ver.di-Bundesfachkommission Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste.

 

 
Manfred Roolf

Manfred Roolf ist Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung und Betriebsratsvorsitzender bei den Elbe-Werkstätten in Hamburg. Er engagiert sich ebenfalls in der ver.di-Bundesfachkommission Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste.


 

Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sollen unter anderem die Inklusion und den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt befördern. Wenn sie diesen Auftrag ernst nehmen, müssten sich die Werkstätten dann nicht selbst abschaffen?

Manfred Roolf: Schon als ich zu Beginn meiner Tätigkeit 1990 in die Werkstättenverordnung geschaut habe, war mir klar: Ich mache hier einen Job, bei dem ich mich möglichst überflüssig mache. Schon damals war die Hauptaufgabe, Menschen so zu qualifizieren und zu unterstützen, dass sie eine Stelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt finden. Unser gesetzlicher Auftrag ist also, dass wir uns als Werkstatt selbst abschaffen.

Warum gibt es die Werkstätten dann immer noch?

Katharina Lammers: Es ist wichtig, dass die Menschen auch weiterhin die Wahl haben – inklusive der Möglichkeit, im geschützten Raum einer Werkstatt zu arbeiten. Es geht hier um Menschen, denen eine volle Erwerbsminderung medizinisch bescheinigt wurde. Und sie haben die sogenannte Werkstattbedürftigkeit, also ein Anrecht auf einen Werkstattplatz. Sie in die Lage zu versetzen, tatsächlich selbst zu wählen – das bedeutet Selbstbestimmung. Werkstätten sind eine wichtige Alternative zum allgemeinen Arbeitsmarkt, ohne die eine selbstbestimmte Teilhabe an Arbeit und Gesellschaft für viele nicht möglich wäre.

Ist die Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für all diese Menschen überhaupt sinnvoll und realistisch?

Katharina Lammers: Allen die Wahlfreiheit zu lassen, halte ich definitiv für sinnvoll. Dazu gehört, sie adäquat über ihre Möglichkeiten zu informieren und sich ausprobieren zu lassen. Ist es realistisch, dass alle auch tatsächlich einen Platz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bekommen? Ich würde sagen: noch nicht. Dafür muss sich die Arbeitswelt noch deutlich stärker mit diesem Thema beschäftigen und die Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten nutzen.

Manfred Roolf: Alle reden von Inklusion. Dennoch ist oft die Rede davon, dass immer ein gewisser Teil der Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten bleiben wird. Das finde ich zu kurz gedacht. Ziel muss es sein, dass allen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten wollen, das auch ermöglicht wird. Dafür braucht es die entsprechenden Unterstützungssysteme und mehr Unternehmen, die bereit sind, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen.

 

Der Trend in der Arbeitswelt geht aber doch zu weiter steigendem Leistungsdruck und noch mehr Belastung. Wie kann da Inklusion gelingen?

Katharina Lammers: Einerseits wird der freie Markt härter und schneller – das stimmt. Zugleich gibt es aber einen riesigen Arbeitskräftemangel. Das ist ein Türöffner für diejenigen, die versuchen, Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Es ist ein Zugang, um mit Arbeitgebern ins Gespräch zu kommen, die händeringend Personal suchen. Es gibt schon eine Offenheit, aber oft fehlen Informationen und Erfahrungen. Es gilt zu vermitteln: Wenn ihr Menschen mit Behinderungen beschäftigt, steht ihr nicht alleine da. Es gibt Hilfe, Beratung und Unterstützung.

Manfred Roolf: Es gibt auch positive Entwicklungen. Jüngere Geschäftsführer*innen haben oft eine größere Offenheit dafür, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Aber ganz klar: Die Humanisierung der Arbeitswelt ist Voraussetzung für eine gelingende Inklusion und ohnehin geboten. Übrigens: So weit weg vom allgemeinen Arbeitsmarkt sind wir in den Werkstätten gar nicht. Bei unseren Aufträgen erfüllen wir die gleichen Ansprüche an Qualität, Quantität und Termintreue wie andere Firmen. In anderen Unternehmen arbeiten dann vielleicht zwei Menschen an einem Produkt, bei uns zwölf. Aber die qualitativen Ansprüche an das Ergebnis sind dieselben. Unsere Beschäftigten leisten professionelle Arbeit.

Ist das nicht auch ein Problem? Bei einer Befragung der TU Darmstadt sagen Dreiviertel der Arbeitnehmer*innen in Werkstätten, dass die individuelle Förderung wegen der Ausrichtung auf die Produktionsziele manchmal oder regelmäßig zu kurz kommen.

Manfred Roolf: Das ist die grundsätzliche Problematik in der Werkstatt: Man will interessante Aufträge, die einem die Möglichkeit geben, verschiedene einfache und komplexere Arbeitsinhalte mit den Menschen zu erarbeiten. Aber da ist dann auch Druck. Wir haben hier in Hamburg öfter die Situation, dass die Ware bis zum nächsten Tag am Hafen im Zoll sein muss, damit das Schiff rechtzeitig ablegen kann. Und das in der geforderten Qualität.

Katharina Lammers: Es ist wichtig, sinnvolle Tätigkeiten zu machen. Werkstätten machen keine Klötzchenkurse mehr. Sie haben ernsthafte Vertragspartner und bieten Tätigkeiten an, die auf dem freien Markt eingekauft werden. Wenn man den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt gestalten möchte, braucht man genau solche Aufträge. Das ist der Spagat, den die Fachkräfte für Arbeits- und Berufsförderung hinbekommen müssen. Es ist ein sehr komplexer Auftrag, einerseits individuell zu unterstützen und zu qualifizieren und andererseits wirtschaftlich zu arbeiten. Das ist eine hohe Anforderung, die stärker anerkannt werden sollte.

Manfred Roolf: Die Entwicklung spiegelt auch die Geschichte der Werkstätten wider. Am Anfang, aus den Erfahrungen der Nazi-Zeit, stand das Beschützende im Vordergrund. In den 1990ern gab es einen Wechsel dahin, so arbeitsmarktnah wie möglich zu sein – weg vom Besen binden und Kerzen machen, hin zu industrieller Produktion, Gartenbau etc. Jetzt kommt mit der verstärkten Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt der nächste Schritt.

 
Werkstatt für behinderte Menschen

Was muss sich in den Werkstätten noch verändern, um den gestiegenen Anforderungen an Inklusion gerecht zu werden?

Katharina Lammers: Früher ging es um Fürsorge. Jetzt geht es darum, die Menschen selbst entscheiden zu lassen. Das ist ein grundlegender und absolut richtiger Paradigmenwechsel. Dafür ist in den Werkstätten noch viel zu leisten. Wir müssen weg vom Fürsorgedenken, weg davon, zu sagen: Ich weiß, dass er das eh nicht schafft. Wenn ich den Menschen nicht fordere, weiß er oft gar nicht, welche Ressourcen er hat.

Aber gibt es nicht mehrfach schwerbehinderte Menschen, die zunächst keine Perspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben?

Katharina Lammers: Die gibt es. Das ändert aber nichts an der Haltung. Ein Beispiel ist der »Schichtwechsel«, den ich in Bremen 2021 leiten durfte. Menschen mit Behinderungen wechseln für einen Tag auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Und umgekehrt: Beschäftigte aus anderen Betrieben gehen für einen Tag in die Werkstatt. Danach waren alle begeistert und haben sofort gesagt: Das will ich wieder machen! Doch die Frage, ob sie jetzt bereit sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein, haben alle verneint. Das zeigt: Es braucht Zeit, so etwas zu entwickeln.

Manfred Roolf: Es braucht Zeit, und es braucht qualifizierte Fachkräfte, die die nötige Unterstützung geben können. Um Praktika und Außeneinsätze zu organisieren, die Menschen zu begleiten, vor Ort zu unterstützen, muss genug Personal zur Verfügung stehen – das geht nicht nebenbei.

Was fordert ihr konkret in Bezug auf Personalbemessung und Qualifikation?

Katharina Lammers: Wir haben als ver.di-Bundefachkommission viele Gespräche geführt und sind zu dem Schluss gekommen, dass die geprüfte Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung (gFAB) der qualifikatorische Standard sein muss. Zudem braucht es kontinuierliche Fortbildungen, um sich auf die rasanten Veränderungen und steigenden Anforderungen einstellen zu können. Klar ist: Eine personenzentrierte Arbeit ist mit der aktuellen Personalausstattung nicht möglich. Es braucht mehr begleitende Dienste und die Gruppengrößen müssen so sein, dass man auf Einzelne eingehen kann.

Manfred Roolf: Deshalb fordern wir, dass die Personalschlüssel in der Werkstättenverordnung von einer Fachkraft auf zwölf Menschen mit Behinderungen im Arbeitsbereich bzw. von eins zu sechs im Berufsbildungsbereich nicht nur rechnerisch gelten. Im Alltag sollte eine Fachkraft tatsächlich für höchstens zwölf Menschen zuständig sein. Sonst fällt die individuelle Förderung hinten runter, weil schlicht die Zeit fehlt. Die Aufträge müssen schließlich auch termingerecht abgearbeitet werden.

Katharina Lammers: Im begleitenden Sozialdienst ist ebenfalls mehr Personal nötig. Eine Sozialpädagogin oder ein Sozialarbeiter ist aktuell für 120 Werkstattbeschäftigte zuständig. Das reicht maximal für ein Krisenmanagement. Die Menschen bringen immer größere Herausforderungen mit, sind zum Teil traumatisiert oder psychisch belastet. Wenn sie nicht nur aufgefangen, sondern ihnen auch berufliche Perspektiven aufgezeigt und Qualifikationen vermittelt werden sollen, muss sich das Personal im Sozialdienst verdoppeln – also eine Stelle auf höchstens 60 Werkstattbeschäftigte. Hinzu kommen Pflegekräfte, Ergotherapeut*innen und Psycholog*innen, die ebenso eine wichtige Rolle spielen.

 

Was haltet ihr davon, den Erfolg der Werkstätten über Vermittlungsquoten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu messen?

Katharina Lammers: Den Erfolg darauf zu reduzieren, wäre grundfalsch. Man könnte ja auch fragen: Wie viele konnten sich intensiv mit dem Thema beschäftigen? Wie viele haben sich bewusst für die Werkstatt entschieden?

Manfred Roolf: Bundesweit werden keine Vermittlungsquoten vorgegeben. Aber manche Kostenträger schreiben sie in die Vereinbarungen mit den Werkstätten. Andere machen das nicht. Da gibt es große Unterschiede, was Teil des Problems ist: Die Regelungen sind nicht einheitlich.

Katharina Lammers: Problematisch an Quoten ist, dass sie einer guten Kooperation der verschiedenen Anbieter zuwiderlaufen. Es würde viel mehr bringen, wenn man alle Kräfte bündeln und sagen würde: Es spielt überhaupt keine Rolle, wer wen wohin vermittelt – Hauptsache, so viele Menschen wie möglich werden in die Lage versetzt, selbst zu wählen.

Dazu gehört auch, dass sie für den allgemeinen Arbeitsmarkt qualifiziert werden.

Katharina Lammers: Das ist ein ganz wichtiges Thema, das früher noch keine so große Bedeutung hatte. Es muss darum gehen, stärker berufsnah zu qualifizieren und nicht nur Anlerntätigkeiten zu vermitteln. Nach meiner Wahrnehmung sind viele Werkstätten in diese Richtung schon gut unterwegs, aber noch nicht flächendeckend. Die gesetzliche Begrenzung der Qualifizierung von Werkstattbeschäftigten auf zwei Jahre ist kontraproduktiv und verhindert, dass anerkannte Abschlüsse erworben werden können. Das müssen nicht immer volle Qualifikationen sein. Es kann zum Beispiel sein, dass jemand nicht die Prüfung für den umfänglichen Maschinenpark in der Tischlerei oder Gärtnerei absolviert, sondern nur für ein bestimmtes Gerät oder eine kleine Sparte. Das ist dennoch eine Qualifikation, die draußen wirklich gebraucht wird. Das macht es einfacher, sich auf dem freien Markt auszuprobieren und womöglich eine Stelle zu finden.

Ein Großteil der aktuellen Debatte zu Werkstätten dreht sich darum, wie eine angemessene Bezahlung der Menschen mit Behinderungen aussehen sollte. Wie ist hierzu die Haltung der ver.di-Bundesfachkommission?

Manfred Roolf: Wir benötigen unbedingt eine Verbesserung der Entgelte, da unterstützten wir die Forderung der Werkstatträte Deutschland e.V. als Interessenvertretung der Menschen mit Behinderungen. Es ist klar, dass die Werkstätten das Geld dafür nicht selbst erwirtschaften können. Das muss aus Steuermitteln kommen.

Katharina Lammers: Die Werkstatträte sagen: Wenn wir in einer Werkstatt Arbeit verrichten, wollen wir nicht von Sozialleistungen abhängig sein. Das ist eine Position, die wir voll und ganz teilen.

 

Interview: Daniel Behruzi



Dieses Interview erscheint in der mittendrin Nr. 7.

 

Die ver.di-Bundesfachkommission Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste hat sich mit einem Diskussionspapier in die Debatte über die Zukunft der Werkstätten eingebracht. Darin werden Vorschläge unterbreitet, wie sich Werkstätten weiterentwickeln müssen, um besser den veränderten Anforderungen einer selbstbestimmten, personenzentrierten Förderung gerecht zu werden. Es kann hier heruntergeladen werden.

 

Kontakt

  • Sarah Bormann

    Be­hin­der­ten­hil­fe, Teil­ha­be- und In­klu­si­ons­diens­te

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