Was tun gegen die Personalnot? Diese Frage stand im Zentrum der ver.di-Fachtagung Behindertenhilfe am 16. und 17. Januar 2024 in Kassel. »Der Arbeits- und Fachkräftemangel ist in der Behindertenhilfe angekommen«, stellte Sarah Bormann von der ver.di-Bundesverwaltung zum Auftakt fest. Und das bestätigte sich in den Berichten der Kolleg*innen aus verschiedenen Arbeitsfeldern. Es sei oftmals schwierig, freie Stellen neu zu besetzen. Das gelte besonders, aber längst nicht mehr nur für Fachkräfte. Die Schlussfolgerung daraus müsse sein, Beschäftigte durch gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen zu gewinnen und zu halten, so der Tenor.
»Personalmangel«, »Fachkräftemangel«. Diese Begriffe erschienen ganz groß auf der Leinwand, als zu Beginn die größten Probleme in den Einrichtungen abgefragt wurden. Die Folgen des Mangels tragen Klient*innen und Beschäftigte. Sarah Bormann, die bei ver.di für die Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste zuständig ist, verwies auf eine Befragung der Hochschule Fulda, wonach Beschäftigte aus der Behindertenhilfe ein deutlich höheres Burnout-Risiko haben als Kolleg*innen anderer Branchen. Fast 50 Prozent von ihnen denken laut einer Studie der TU Darmstadt darüber nach, ihren Job aufzugeben. In anderen Berufen liegt der Anteil mit 20 Prozent weniger als halb so hoch. Das macht klar: Wenn sich nichts verbessert, wird die Personalnot weiter zunehmen. Schon jetzt müssen zwei von drei Einrichtungen Leiharbeiter*innen einsetzen, um Ausfälle zu kompensieren. »Vor wenigen Jahren gab es in der Behindertenhilfe noch wenige Leiharbeiter, das ist heute ganz anders«, erklärte Bormann.
Zur hohen Belastung trägt bei, dass der Unterstützungsbedarf der Klient*innen zunimmt und vielfältiger wird. Zugleich steigt der Kostendruck aufgrund politischer Entscheidungen. So werden mit dem Bundesteilhabegesetz zwar neue fachliche Anforderungen geschaffen, die jedoch »kostenneutral« bewältigt werden sollen. »Das geht nicht«, stellte Bormann klar. »Wer inklusive Lösungen will, muss die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen und das nötige Geld zur Verfügung stellen.«
Arbeitgeber tragen Verantwortung
Der Sprecher der ver.di-Bundesfachkommission Behindertenhilfe, Andreas Klein, umriss die aktuellen gewerkschaftlichen Aktivitäten. Tarifpolitisch ist ein zentrales Ziel, die Verbesserungen aus den Tarifabschlüssen des öffentlichen Dienstes sowie des kommunalen Sozial- und Erziehungsdienstes auf die freien Träger zu übertragen. Insgesamt will ver.di die Tarifbindung in der stark fragmentierten Branche stärken. In diesem Jahr sollen zudem Gespräche mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände über eine Entgeltordnung in der Persönlichen Assistenz und der Schulassistenz stattfinden, die im Tarifvertrag bislang nicht richtig abgebildet sind. Fachpolitisch drängen die Gewerkschafter*innen unter anderem auf auskömmliche Personalschlüssel und bessere Ausbildungsbedingungen in der Heilerziehungspflege. »Schulgeldfreiheit, Ausbildungsvergütung und bessere Ausbildungsbedingungen sind nötig«, betonte der Sozialarbeiter Andreas Klein. Betriebspolitisch versuche ver.di, Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen zu stärken, um gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen – unter anderem mit der alle zwei Jahre stattfindenden Fachtagung.
Dass auch einzelne Arbeitgeber Möglichkeiten haben, die Bedingungen zu verbessern, zeigte ein Vortrag von Brigitte Buermann-Gerdes von Leben mit Behinderung Hamburg. Für die rund 1.200 Beschäftigten des Unternehmens gilt seit 2020 wieder ein Tarifvertrag. »Das ist eine großartige Leistung, der Tarifvertrag stärkt die Attraktivität«, bilanzierte die Bereichsleiterin. Gemeinsam mit dem Betriebsrat habe man in den vergangenen Jahren intensiv daran gearbeitet, die Arbeitszufriedenheit zu verbessern. Das von den Betriebsparteien zusammen vorangetriebene Projekt »Besser mit dir« sei im Dialog mit der Belegschaft entwickelt worden und enthalte eine Vielzahl von Maßnahmen. So wird Beschäftigten zum Beispiel angeboten, sich in schwierigen beruflichen oder privaten Situationen extern und vertraulich beraten zu lassen – inklusive der Möglichkeit von Kurzzeit-Therapien. Beschäftigte werden durch »Support-Teams« in individuellen und fachlichen Fragen unterstützt und vieles mehr. Neueste Errungenschaft: Ein Einarbeitungskonzept, das unter anderem Patenschaften für neue Kolleg*innen, eine Checkliste und regelmäßige Orientierungsgespräche beinhaltet. Im nächsten Projekt soll das Einspringen aus dem Frei durch sogenannte Schattendienste reduziert werden. Für 2024 ist bei Leben mit Behinderung Hamburg zudem ein Gesundheitstag für alle Beschäftigten geplant. »Als Betriebsrat sind wir bei allen Projekten von Anfang an dabei, immer mit Blick auf eine gute Arbeitsgestaltung«, betonte die Betriebsrätin Lene Mensen.
Mehrere Teilnehmende berichteten in der Debatte, dass es auch in ihren Einrichtungen nicht an guten Konzepten fehlt. Deren Umsetzung scheitere allerdings allzu oft an den politisch gesetzten Rahmenbedingungen. »Wir haben zu wenig Personal und eine unzureichende Finanzierung, das machen auch die besten Projekte und Maßnahmen nicht wett«, erklärte der Heilerziehungspfleger Wolfgang Geißler, der in Baden-Württemberg in einer Caritas-Einrichtung arbeitet. »Wir müssen uns in der sozialen Daseinsvorsorge politisch Gehör verschaffen und klar machen, dass wir die Schnauze voll haben – so, wie aktuell die Landwirte.« Anette Gust, Betriebsrätin bei Leben mit Behinderung Hamburg, stimmte dem grundsätzlich zu: »Die bei uns ergriffenen Maßnahmen zeigen, was innerhalb des Betriebs möglich ist. Zugleich müssen wir aber unsere politische Arbeit voranbringen und eine Aufwertung der sozialen Berufe erreichen.« Die Managerin Brigitte Buermann-Gerdes betonte ebenfalls, die Soziale Arbeit müsse ihre Stimme erheben. »Aber auch als Arbeitgeber tragen wir Verantwortung, die Arbeitsplätze attraktiv zu gestalten.«
»Das Holen aus dem Frei ist bei uns ein Riesen-Problem. Die Leute werden regelmäßig in ihrer Freizeit angerufen. Das belastet und macht krank. Deshalb haben wir als Betriebsrat die Initiative für ein Ausfallkonzept ergriffen. Wir haben dem Arbeitgeber aufgezeigt, dass die bisherige Situation nicht nur Beschäftigten und Klient*innen schadet. Sie verursacht auch enorme Kosten durch Krankheitsausfälle, Überstunden und vor allem externe Dienstleister. So haben wir die Geschäftsführung überzeugt, ein Ausfallkonzept zu etablieren und fünf neue Vollzeitstellen auszuschreiben. Reihum werden Kolleg*innen im Wohnbereich künftig für sogenannte Jokerdienste eingeplant, über die bisherige Personalbesetzung hinaus. Fallen in benachbarten Wohngruppen Leute aus, wechseln diese Kolleg*innen kurzfristig dorthin. Gibt es keine Ausfälle, machen sie zusätzliche Förderangebote. Zum Beispiel kann man dann mal mit Klient*innen zusammen kochen, was sonst oft nicht möglich ist. Davon profitieren alle.«
»Die Zahl von Menschen mit Handicap, für die eine Gruppenleitung zuständig ist, nimmt bei uns in der Werkstatt tendenziell zu. Es braucht Zeit für individuelle Betreuung und Gespräche durch Fachkräfte. Wenn die Menschen mit Handicap nicht genug wahrgenommen werden, kommt es häufiger zu auffälligem Verhalten. Wir sind dafür da, die Menschen adäquat zu betreuen und zu unterstützen. Dafür brauchen wir eine Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf abbildet. Der jetzige Personalschlüssel von einer Fachkraft auf zwölf Klient*innen im Arbeitsbereich ist nicht mehr ausreichend. Sonst klappt es auch nicht mit der Vermittlung der Menschen auf den Arbeitsmarkt. Damit sie gelingt, brauchen sie individuelle Unterstützung und intensive Betreuung. Das Ziel der Inklusion braucht mehr, nicht weniger Personal.«
»Seit fünf Jahren gibt es bei uns ein Vertretungsmanagement. Wir sind zehn examinierte Kolleg*innen und decken täglich mindestens zwei Spätdienste und eine Nachtbereitschaft ab. Damit werden kurzfristige Ausfälle kompensiert, so dass Kolleg*innen nicht allein arbeiten müssen, wenn sie eigentlich zu zweit sein sollten. Sie sind immer total dankbar, wenn wir kommen. Für uns heißt das, dass wir zwar erst am Morgen erfahren, wo in Hamburg wir eingesetzt werden. Dafür haben wir verlässliche Arbeitszeiten. Ich weiß drei Monate im Voraus, wann ich arbeiten muss. Einspringen gibt es für mich nicht. Und für die Nachtbereitschaft bekomme ich 100 Prozent der Arbeitszeit angerechnet, obwohl es auch Ruhephasen gibt. Da die Abläufe und Konzepte in allen Einrichtungen von Leben mit Behinderung Hamburg dieselben sind, kann ich meine Arbeit überall gut machen. Was für mich ein großer Gewinn ist: Ich nehme meine Arbeit gedanklich nicht mit nach Hause, anders als früher, als ich fest in einer Wohngruppe war. Mit dem Konzept sichern wir die Fachlichkeit, verhindern Alleinarbeit und es ist günstiger als Leiharbeit. Deshalb wollen wir es möglichst ausweiten.«
Die Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) werden von ver.di-Aktiven und betrieblichen Interessenvertretungen schon seit längerem intensiv und kritisch diskutiert. Vier von fünf Beschäftigten berichten von zusätzlichen Anforderungen infolge des Gesetzes. Bei der diesjährigen Fachtagung berichtete Dr. Philipp Mattern vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge – der die Umsetzung des BTHG im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales begleitet – über Versuche, die Wirksamkeit der beschlossenen Maßnahmen zu kontrollieren.
Die Wirkungen der eigenen Arbeit zu evaluieren, ist in der Eingliederungshilfe gang und gäbe. Neu ist allerdings, dass nun gesetzlich festgeschrieben ist, das Erreichen von Teilhabezielen und die Wirksamkeit von Leistungen zu überprüfen. Kostenträger sollen sogar die Vergütung kürzen können, falls die Arbeit der Einrichtungen nicht »wirksam« ist. Offen ist indes, wie »Wirksamkeit« konkret gemessen werden soll. Im Gesetz sei dies nicht weiter erläutert und bislang auch nicht in den Landesrahmenverträgen, weshalb die Umsetzung der Vorgaben noch offen sei, erläuterte Mattern. Klar ist bereits: Die Dokumentationsaufgaben nehmen zu. Nicht nur deshalb sind die Themen Wirkungskontrolle und Wirksamkeit für betriebliche Interessenvertretungen wichtig. Sie könnten auch eine Leistungs- und Verhaltenskontrolle von Beschäftigten beinhalten, was Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen ausschließen wollen.
Auf aktuelle Entwicklungen im Arbeitsrecht ging die Frankfurter Rechtsanwältin Lisa Politycki in ihrem Vortrag ein. Sie berichtete unter anderem von Urteilen zu Überstundenzuschlägen, Rufbereitschaft und Videoüberwachung. Zentrales Thema waren indes die Auswirkungen der 2019 getroffenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. Auch wenn das Gesetz, das dies regeln soll, weiter auf sich warten lässt, steht fest: Arbeitgeber sind verpflichtet, die tatsächlichen Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten zu erfassen. »Das hat bei Arbeitgebern für Furore gesorgt, denn es macht die tatsächlichen Zustände und Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz sichtbar«, kommentierte Politycki. Das Ausbleiben des Gesetzes habe eine sehr widersprüchliche Situation zur Folge – zum Beispiel in der Frage von Mitbestimmungsmöglichkeiten. So könnten Betriebsräte laut aktuellen Urteilen zwar nicht die Initiative zur Einführung einer Arbeitszeiterfassung ergreifen, wohl aber zu deren Ausgestaltung. Die Untätigkeit des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales führe zu einer »absurden Rechtslage«.
Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste
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