Jahrelang haben sie nicht lockergelassen: Immer und immer wieder haben Assistentinnen und Assistenten beim fib Marburg – einem Verein zur Selbsthilfe von Menschen mit Behinderungen – hartnäckig auf einen Tarifvertrag gedrängt. Mit großartigem Erfolg. »Alle sind sehr happy«, berichtet Daniel Gremm, für ver.di in der Tarifkommission aktiv. Die Beschäftigten erhalten nicht nur höhere Stundenlöhne, sondern auch höhere Zuschläge für Nacht- und Wochenendarbeit und neu nun auch Zulagen für Schicht- und Wechselschichtarbeit. Damit kämen sie in einzelnen Schichten auf bis zu neun Euro mehr pro Stunde. Hinzu kommt eine Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro.
Mit diesem Tarifabschluss gehört fib bundesweit zu den Vorreitern. »Tariflöhne sind in der Branche leider immer noch unüblich«, betont die zuständige ver.di-Gewerkschaftssekretärin Saskia Teepe. Die Assistenzkräfte sorgen dafür, dass die teils mehrfachbehinderten Menschen durch eine Eins-zu-eins-Unterstützung ein selbstbestimmtes Leben führen können, würden dafür jedoch meist nur prekär beschäftigt zu Niedriglöhnen. Das Beispiel zeige: »Es geht! Auch in dieser Branche sind Tarifverträge und gute Arbeitsbedingungen möglich.« Und mehr noch: »Davon haben alle etwas.« Von Tariflöhnen profierten nicht nur die über 1.000 Beschäftigten, sondern auch der Betrieb und die Menschen mit Behinderungen. »Ihre Unterstützung wird besser, weil sie dadurch gesichert wird.« Die gute Bezahlung macht den Job für Assistenzkräfte sehr viel attraktiver. Zuletzt war es immer schwieriger geworden, zu den Bedingungen noch Personal zu finden.
Traditionell hätten vor allem Studierende nebenher bei dem Verein gejobbt, berichtet Betriebsrätin Elena Müller. Dafür erhielten sie lediglich den Mindestlohn für ungelernte Pflegehilfskräfte, der vor fünf Jahren noch bei rund 11 Euro pro Stunde lag und mittlerweile auf 15,50 Euro gestiegen ist. »Wenn sie abends in einer Kneipe kellnern, gehen sie plus Trinkgeld mit mehr nach Hause.« Dabei leisteten sie hochanspruchsvolle Arbeit, mit hoher Eigenverantwortung, seien alleine für die teils mehrfachbehinderten Menschen verantwortlich. Auch emotional sei die Arbeit sehr fordernd.
Als sie beim fib vor rund sieben Jahren den ersten Betriebsrat gründeten, stand für sie schnell fest: »Langfristig brauchen wir einen Tarifvertrag« , sagt Elena Müller. Und das geht nicht ohne Gewerkschaft. In der Folge führten sie viele, viele Gespräche mit Assistenzkräften, warum ein Tarifvertrag »sinnvoll und wichtig« ist. Das war nicht einfach, weil alle sehr vereinzelt arbeiten. Deshalb sorgten sie für möglichst viele Begegnungen, zum Beispiel bei regelmäßigen Betriebsversammlungen. So konnten sie viele Kolleginnen und Kollegen überzeugen – und auch für ver.di gewinnen.
Und auch bei der Geschäftsführung galt es, Vorbehalte auszuräumen. Der Verein wurde in den 1980er Jahren von Menschen mit Behinderung in Marburg gegründet, um sich selbst Unterstützung im Alltag zu organisieren. Die Sorge sei dort groß gewesen, dass ein Tarifvertrag ihre Versorgung gefährden könnte, berichtet Saskia Teepe. Und dass ihre Flexibilität leiden könnte, weil viele prekäre Arbeitsverhältnisse auf feste Verträge umgestellt werden. Hinzu kam die Angst, der Betrieb könnte pleitegehen. Doch die aktiven Beschäftigten hätten viel Überzeugungsarbeit geleistet und klar gemacht: »Von einem Tarifvertrag haben alle etwas.«
Die Verhandlungen zogen sich über Jahre. »Der Tarifvertrag ist nicht vom Himmel gefallen« , sagt Elena Müller. Äußerst zäh gestalteten sich auch die Gespräche mit den Kostenträgern – sprich den Pflegekassen und dem Landeswohlfahrtsverband – über die Refinanzierung der Tariflöhne. »Das war ein harter Brocken« , sagt Saskia Teepe von ver.di. »Aber letztlich haben wir es geschafft.« Die Tariflöhne werden übernommen.
Jetzt richten sich die Stundenlöhne auch nach der Beschäftigungsdauer im Betrieb. Die Eingruppierung beginnt bei der Entgeltgruppe S3 analog zum TVöD, wobei die ersten beiden Erfahrungsstufen sogar etwas höher sind, plus die Zulage für den Sozial- und Erziehungsdienst in Höhe von 130 Euro. Damit erhalten die Assistenzkräfte jetzt je nach Beschäftigungsdauer zwischen 18,34 und 22,89 Euro pro Stunde plus Zuschläge. Vorher lag der Einstiegslohn bei 14,79 Euro. Ein großer Unterschied. Seit Frühling gilt der Tarifvertrag. Elena Müller hofft, dass andere ihrem Beispiel folgen. »Viele Betriebe sind in einer ähnlichen Situation wie wir.« Ihr Erfolg zeigt: »Es lohnt sich!«
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