In der Behindertenhilfe, den Teilhabe- und Inklusionsdiensten finden tiefgreifende Veränderungen statt. Teil dessen ist die sogenannte Sozialraumorientierung. Ausgehend von dem einzelnen Menschen sollen die Bedingungen in seinem unmittelbaren Umfeld so gestaltet werden, dass er möglichst selbstbestimmt leben kann. Die rund 130 Teilnehmer*innen einer ver.di-Fachtagung diskutierten am 7. und 8. Oktober 2021 in Göttingen darüber, was das für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet, wie sich die fachlichen Anforderungen verändern und welche Rahmenbedingungen nötig sind, um die geforderte »Personenzentrierung« gewährleisten zu können.
»Wir brauchen viel mehr personenzentrierte Hilfen, die von den Interessen und Wünschen der Betroffenen ausgehen«, erklärte die Bochumer Professorin für Heilpädagogik und Pflege, Kathrin Römisch. Die Angebote an Menschen mit Behinderung dürften sich nicht vor allem nach den Institutionen, sondern müssten sich nach den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen richten. Zudem gelte es, verstärkt Ressourcen des Sozialraums zu nutzen, zum Beispiel die Unterstützung von Menschen aus dem Stadtteil. »Dabei geht es aber nicht um die Ablösung professioneller Tätigkeiten durch ehrenamtliche Personen aus dem Quartier«, stellte die Wissenschaftlerin von der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe klar. Freiwilliges Engagement könne stets nur zusätzliche Angebote und Kontakte bieten. »Es geht um einen Umbau, nicht um einen Abbau von Professionalität.«
Bei der auf den Vortrag folgenden Debatte machten Beschäftigtenvertreter*innen deutlich, dass in der Praxis bereits vieles in Bewegung ist. So berichtete Katharina Lammers von der Werkstatt Bremen, dass die Werkstätten für behinderte Menschen in Bezug auf Produktion und Kund*innen schon lange auf eine Sozialraumorientierung setzten. Nun komme allerdings die Anforderung hinzu, möglichst viele Menschen mit Behinderung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. »Da gibt es einen großen Druck von außen, von der Politik, aber auch von Elterninitiativen«, erklärte die Personalrätin. Oft gehe es allerdings nur um die Vermittlungsquote in den allgemeinen Arbeitsmarkt. »Da wird zum Teil zu kurz gedacht. Auch jedes Praktikum, jeder Tag außerhalb der Werkstatt ist für die Menschen ein sehr, sehr großer Schritt.«
Christine Rapp, Betriebsratsvorsitzende bei Leben mit Behinderung Hamburg und Sprecherin der ver.di-Bundesfachkommission Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste, berichtete von einem starken Trend in Richtung Ambulantisierung. Sie betonte, dass genug Personal und Zeit, aber auch Kompetenzerweiterungen durch Fortbildungen nötig sind, um diese gut umsetzen zu können. Der Heilerziehungspfleger Jochen Dürr von der Diakonie in Schwäbisch-Hall kritisierte, dass die gesetzten Rahmenbedingungen nicht zu den formulierten Ansprüchen passen. So sei es bei ambulanten Angeboten oft schwer, die nötigen Betreuungsstunden abzurechnen. Im Wohnbereich fehle es an Personal, um gute und verlässliche Betreuung in kleinen Wohneinheiten zu gewährleisten. Oft machten sehr kurzfristige Finanzierungszusagen eine langfristige Planung und sichere Beschäftigung unmöglich. Vor diesem Hintergrund plädierte der Mitarbeitervertreter für deutliche Nachbesserungen im Bundesteilhabegesetz. »Wir müssen mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen klare Forderungen stellen und deutlich machen, wo nachgesteuert werden muss«, so Dürr.
Diesen Gedanken griff Sylvia Bühler auf, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheits- und Sozialwesen zuständig ist. Sie appellierte an die großen Träger der Behindertenhilfe, »mit uns zusammen loszulaufen und ordentlich mehr Geld herauszuholen in dieser Verteilungsfrage«. Die Arbeitgeber anderer Branchen wie der Metallindustrie stünden gemeinsam mit den Gewerkschaften bei den Koalitionsverhandlungen »vor der Tür und sagen, was sie brauchen für die sozial-ökologische Transformation«. Bei der großen Transformation, die sich in der Behindertenhilfe vollziehe, gebe es hingegen kein geschlossenes Vorgehen. ver.di biete den Trägern an, gegenüber der Politik gemeinsam für bessere Rahmenbedingungen einzutreten. Es gehe jedenfalls nicht an, immer neue Anforderungen zu stellen, diese aber nicht zu finanzieren, betonte Bühler. »Hier passen Theorie und Praxis nicht zusammen.«
Besonders deutlich wird der Diskrepanz zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit im Bereich der Werkstätten, wie die Debatte über einen Vortrag des Vorstandsvorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen, Martin Berg, zeigte. Kolleg*innen verwiesen darauf, dass die Förderung der Menschen mit Behinderung wegen der unzureichenden Personalausstattung allzu oft hinter der Erfüllung von Produktionsaufträgen zurücksteht. Sie habe oft vor der Situation gestanden, »den Spagat nicht zu schaffen«, berichtete Katharina Lammers, die seit 20 Jahren als Tischlermeisterin bei der Werkstatt Bremen arbeitet. Die Produktion in den Werkstätten habe auch zur Förderung eine wichtige Funktion. »Aber wenn ich keine Möglichkeit habe, den Schwächeren auch was beizubringen, weil ich die Zeit nicht habe, weil der Produktionsdruck so groß ist, dann ist das ein Dilemma, das ich nicht auflösen kann.«
In zahlreichen Workshops diskutierten die Teilnehmer*innen der Fachtagung darüber, wie sich die betrieblichen Interessenvertretungen angesichts von Ambulantisierung und zunehmender Belastung aufstellen können und welche Handlungsmöglichkeiten sie haben. Dabei wurde beispielsweise auch der genannte Widerspruch zwischen Produktions- und Teilhabeansprüchen in den Werkstätten vertieft diskutiert. In einem Workshop ging es darum, wie Kolleg*innen in verstreuten Betriebseinheiten erreicht werden können – was im Zuge der Ambulantisierung eine wachsende Herausforderung darstellt. In anderen Arbeitsgruppen stand im Vordergrund, wie Betriebs- und Personalräte sowie Mitarbeitervertretungen mit der Digitalisierung und der Zunahme mobiler Arbeit umgehen sollten. Gewalt gegen Beschäftigte und der Umgang damit war ein weiteres, intensiv diskutiertes Thema.
Mit rund 500.000 Beschäftigten sei die Behindertenhilfe ein bedeutendes Arbeitsfeld, resümierte Bühler. »Wir müssen lauter werden, um der Behindertenhilfe auch in der Politik mehr Widerhall zu geben.« So gelte es, die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen attraktiver zu machen. »Andere schütteln mit dem Kopf, wenn sie hören, dass angehende Heilerziehungspfleger keine Ausbildungsvergütung erhalten und noch Geld mitbringen müssen«, nannte sie als Beispiel.
Die Beschäftigten in der Behindertenhilfe bräuchten Aufwertung und Entlastung. Darum gehe es im kommenden Jahr auch bei den Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Als »Leitwährung« habe dieser auch für die freien Träger der Behindertenhilfe eine große Bedeutung. »Wenn es uns gelingt, den nächsten Schritt zu machen für Aufwertung und bessere Arbeitsbedingungen, dann hilft uns das auch in Tarifverhandlungen bei der Lebenshilfe, der AWO und dem Roten Kreuz«, betonte Bühler. Deshalb seien alle aufgefordert, sich an der Tarifrunde zu beteiligen und die Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst zu unterstützen.
Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste
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