Schon lange stört Franzsika Willing, dass es bei der Bezahlung so große Unterschiede gibt. Doch richtig die Nase voll hat sie, als viele andere im Betrieb eine Sonderzahlung von 3.000 Euro erhalten – und die Schulbegleitung und der Fahrdienst schon wieder komplett leerausgehen. "Das ist total bitter", findet die Gewerkschafterin. Damit will sie sich nicht länger stillschweigend abfinden. Auf der Betriebsversammlung stand sie deshalb auf und machte auf die Ungerechtigkeit aufmerksam. "Für viele ein Aha-Erlebnis", sagt Betriebsrat Friedemann Geiger, der bei ver.di aktiv ist. Einem Großteil der Belegschaft sei vorher überhaupt nicht bewusst gewesen, dass die Kolleginnen und Kollegen so ungleich bezahlt werden – und dass die Stiftung Drachensee de facto überhaupt keinen Tarifvertrag hat.
Bei dem Träger in Kiel arbeiten 700 Beschäftigte, unter anderem in Werkstätten, Förderstätten, Wohnprojekten, Freizeitangeboten und Schulbegleitung. Der zuständige ver.di-Gewerkschaftssekretär Christian Godau erklärt, dass viele Beschäftigte zwar "das Glück" hätten, dass ihre Bezahlung über den Arbeitsvertrag an den TVöD oder den Tarifvertrag der Länder angelehnt sei. Allerdings gebe es keine verbindliche Regelung, keinen Tarifvertrag. Viele Zulagen würden ihnen vorenthalten, tarifliche Regelungen nur teilweise angewendet und auch Jahressonderzahlungen fielen unterschiedlich aus, ebenso Gehaltserhöhungen. "Einer bekommt dies, der andere das", sagt der Gewerkschafter. "Es ist eine undurchsichtige, wilde Mischung. Die Bezahlung ist total intransparent und für die Beschäftigten kaum zu durchblicken."
Als Schulbegleiterin verdient Franziska Willing rund 15 Euro pro Stunde, erhält weder Urlaubs- noch Weihnachtsgeld. "Es ist total ungerecht, dass ein Teil der Belegschaft so viel schlechter dasteht", betont Friedemann Geiger. Zwei Drittel der Belegschaft werden mehr oder weniger nach dem Tarifvertrag der Länder bezahlt, der Fahrdienst und die Schulbegleitung bleiben komplett außen vor. "Diese Spaltung muss ein Ende haben." Deshalb gründeten sie vor zwei Jahren eine ver.di-Betriebsgruppe und machen sich jetzt gemeinsam für einen Tarifvertrag stark. "Alles andere wird der großen Verantwortung von der Arbeit mit Menschen mit Behinderung nicht gerecht", findet der Sozialpädagoge.
In der Schule steht Franziska Willing zwei Erstklässlern nonstop zur Seite, der eine ist blind, der andere hat Trisomie 21: "Ich helfe bei allem, bin auch für die Pflege zuständig", sagt die 39-Jährige. "Wir leisten so eine wertvolle Arbeit." Aber auf ihren Gehaltszettel guckt sie lieber nicht: "Da wird mir ganz anders." Am Anfang hat sie sich wenig Gedanken über die Bezahlung gemacht. Sie arbeitete vorher als Verwaltungsangestellte. Als eine Mutter dringend eine Schulbegleitung für ihren Sohn suchte, zögerte sie nicht lange. Ihr Cousin ist schwerstmehrfachbehindert, deshalb traute sie sich den Job sofort zu. "Ich mache die Arbeit wirklich gerne", betont sie. Doch es brauche dringend eine bessere Bezahlung.
Im ersten Schritt richtete sie eine Chatgruppen ein, um die Kolleginnen und Kollegen der Schulbegleitung überhaupt erst einmal zu vernetzen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Die knapp 120 Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter arbeiten an unterschiedlichen Schulen und begegnen sich im Alltag so gut wie nie. "In der Chatgruppe berichten sie über ihre Probleme und äußern ihre große Unzufriedenheit", berichtet Franziska Willing. Ihren Unmut tragen sie jetzt auch nach außen. Für eine Gewerkschaftsdemo in Kiel pinselten sie in großen Buchstaben auf ein Transparent: "Stiftung Drachensee: ‚Sozialer Träger.‘ Warum keine sozialen Löhne?" Auf einem anderen Plakat forderten sie: "TVöD für alle! Jetzt!"
Der Anfang ist gemacht: "Wir haben offengelegt, was es für eine Zweiklassengesellschaft im Betrieb gibt und fordern gleiche Rechte für alle", sagt Christian Godau von ver.di. "Jetzt gilt es, am Ball zu bleiben." Nach der Betriebsversammlung druckten sie auch Flyer mit Infos. Und vor allem: Die Beschäftigten organisieren sich. Viele Kolleginnen und Kollegen seien in den letzten Monaten neu bei ver.di eingetreten, berichtet Franziska Willing. "Das kostet großen Aufwand." Neben Vollzeitjob und einem eigenen Kind bringt die Schulbegleiterin viel Zeit und Energie dafür auf. "Es geht mir nicht um Verbesserungen für mich, sondern für uns alle."
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