Soviel Präsenz wie möglich, so viel Online wie nötig – so lautete vor dem aktuellen Wintersemester an vielen Hochschulen und auch seitens der Politik das Leitbild. In den letzten Wochen wurde nun mit täglich steigenden Infektionszahlen und angesichts aktuell stärkeren Beschränkungen des öffentlichen Lebens deutlich, wie eingeschränkt die mit dieser Aussage verbundene Rückkehr zu einer akademischen Normalität im Wintersemester ausfallen wird.
Viele ver.di-Mitglieder an den Hochschulen, Studierende wie Beschäftigte, sehen daher mit Sorge auf die bisherigen Planungen. Nicht überall, aber zu oft wurde suggeriert, an den Hochschulen mit einer flexiblen Steuerung auf die akute Pandemielage reagieren zu können. Es sollte ein Miteinander von Präsenz- und digitalen Veranstaltungen, gegebenenfalls auch unterschiedliche hybride Mischformen organisiert werden.
Die Herausforderungen, die damit verbunden sind, werden noch oft unterschätzt. Häufig fühlen sich Beschäftigte und Studierende nicht gut unterstützt. Dabei hat das vergangene Sommersemester wichtige Lektionen gebracht, die die Hochschulen stärker berücksichtigen müssen, damit alle Betroffenen gut und sicher durch den Winter und darüber hinaus zu kommen.
Deshalb führen in diesem Papier ver.di-Mitglieder aus der Praxis, Lehrende, Studierende, Personalrät*innen, IT- und Verwaltungsfachkräfte ihre Perspektiven und Expertise zusammen und formulieren Anforderungen für Studium und Lehre unter Corona-Bedingungen. Die zentralen Punkte sind dabei: Hygiene und Gesundheitsschutz gewährleisten, Lehre sicher und fair gestalten, mobiles Arbeiten verantwortungsvoll ermöglichen, Planbarkeit und Verlässlichkeit schaffen.
Keineswegs können in diesem Papier alle Facetten betrachtet werden, die etwa bei der Gestaltung digitaler Lernangebote wichtig sind. Zentrale Fragen wie etwa die Wahrung des Datenschutzes und der Mitbestimmungsrechte scheinen hier nur insoweit auf, wie sie die besonderen Bedingungen der kommenden Monate betreffen. Ihre grundlegende Bedeutung in der Krise wie darüber hinaus wird dadurch in keiner Weise eingeschränkt.
Umgekehrt können wir hier ebenfalls nicht alle Punkte thematisieren, die für die Bildung mit der Corona-Pandemie verbunden sind. Die dramatische soziale Lage, in der sich viele Studierende befinden, ist beispielsweise ein drängendes Thema für ver.di, zu dem wir immer wieder Lösungen an die politisch Verantwortlichen adressieren und sie auffordern endlich adäquat zu handeln. Das gleiche gilt für dringend notwendige Vertragsverlängerungen des befristet beschäftigten Personals in der gegenwärtigen Situation.
Wir erwarten von den Verantwortlichen an den Hochschulen wie in der Politik, die schwierigen Herausforderungen von weiteren Semestern unter Corona-Bedingungen mit den Beschäftigten, den Studierenden und ihren Interessenvertretungen gemeinsam zu lösen.
Das primäre Ziel aller Maßnahmen muss weiter sein, die Gesundheit der Studierenden und Beschäftigten zu erhalten.
Verbindliche COVID Hygienepläne schaffen für die Beschäftigten und Studierenden der Hochschulen verlässliche und sichere Arbeitsbedingungen. Diese sind kontinuierlich an die Infektionslage und die jeweils geltenden Rechtsgrundlagen anzupassen.
Der „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“ des Bundeministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ergänzt um die „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregeln der Arbeitsschutzausschüsse“ des BMAS aus dem August 2020 sind eine wichtige Grundlage dafür. Die Personalrät*innen vor Ort kennen die Bedingungen und Umstände, welche die Arbeit bestimmen, am besten. Daher sind sie in die Erstellung und Überarbeitung der Hygienekonzepte der Hochschulen frühzeitig und umfassend einzubeziehen, wie es die Personalvertretungsgesetze vorsehen. Auch die Studierenden sind Expert*innen in eigener Sache und sind durch ihre Vertretungen, z.B. die ASten entsprechend zu beteiligen. Dies gilt für die Länderebene ebenso wie für die Krisenstäbe der Hochschulen. So können zeitnah die Bedarfe der unterschiedlichen Berufsgruppen (Wissenschaftler*innen, Technisches Personal, Verwaltung), der Studierenden und der Doktorand*innen berücksichtigt werden. Besondere Berücksichtigung müssen die Risikogruppen unter den Beschäftigten und Studierenden erfahren.
Mit den Erfahrungen aus dem Sommersemester 2020 sind die Hochschulen gefordert, für die weitere Studierbarkeit ihrer Studienangebote zu sorgen. Digitale Formate zu Semesterbeginn müssen verlässlich auch bei Lockerungen bis zum Semesterende digital fortgeführt werden, um sowohl die Studierenden, als auch den Beschäftigten Planungssicherheit zu geben und doppelte Arbeit bei der Lehrplanung und Veranstaltungskonzeption zu vermeiden.
Präsenzlehre darf gerade unter Pandemie-Bedingungen nicht so gestaltet sein, dass sie Personen ausschließt. Es sind flexible Lösungen gefragt, sowohl über die Prüfungsordnungen als auch mit Hilfe angepasster Modulhandbücher. Absprachen müssen dann verlässlich eingehalten werden. Der Workload muss für die Studierenden auch in den angepassten Lehrformaten den im ECTS System zu erwerbenden Leistungspunkten entsprechen. Studierende, die im Ausland bzw. in ihrem Heimatort verbleiben oder sich in besonderen Lebenslagen befinden, müssen planen können. Für sie dürfen bestehende Barrieren nicht noch erhöht, sondern müssen abgebaut werden. Zu nennen sind hier unter anderem Studierende mit Care-Aufgaben (eingeschränkte Zeitressourcen und -flexibilität) und Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen (Vertraulichkeit wahren und Nachteilsausgleich). Sie gilt es zu schützen und ihren besonderen Herausforderungen gerecht zu werden.
Wir fordern die Hochschulen auf, ihre Leistungen z.B. hinsichtlich der technischen Ausstattung, der Bereitstellung von Hard- und Software, sowie von Arbeitsräumen und -plätzen, auf die Corona Anforderungen anzupassen.
Es ist richtig, Erstsemestern dabei verstärkt durch Präsenzveranstaltungen ein Ankommen in der Hochschule und das Knüpfen sozialer Kontakte zu ermöglichen. Das Bestehen einer Prüfungsleistung darf nicht vom Besuch von Onlineveranstaltungen abhängen. Deshalb halten wir es für richtig, vorrangig auf asynchrone Lehre zu setzen.
Zusätzlich ist ein Mix aus Präsenz- und synchronen Online-Veranstaltungen eine große Herausforderung. Es gibt in den Hochschulen kaum corona-kompatible Räume, in denen Studierende z.B. eine Online-Veranstaltung zwischen zwei Präsenzveranstaltungen verfolgen könnten. Weiter fällt in der kalten und nassen Jahreszeit auch der Aufenthalt im Freien weg. Dementsprechend müssen Aufenthaltsmöglichkeiten, die im Einklang mit den Hygienekonzepten verwendet werden können, geschaffen werden. Ergänzend dazu ist es sinnvoll, über die Festlegung von generellen Online- bzw. Präsenztagen nachzudenken.
Eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie wünschen sich viele Beschäftigte und sehen in Homeoffice oder mobiler Arbeit ein Instrument für mehr Gestaltungsfreiheit. In Corona-Zeiten kann das Arbeiten von zu Hause aus aber, durch die Einschränkungen sozialer Kontakte und der zusätzlichen Anforderungen durch Homeschooling und Care-Aufgaben, Beschäftigte schnell an ihre Belastungsgrenze bringen. Besonders betroffen sind Frauen, da diese Aufgaben auch heute noch mehrheitlich von ihnen übernommen werden. In der Krise zeigt sich daher besonders stark, dass die Flexibilisierung des Arbeitsortes für die Beschäftigten ein zweischneidiges Schwert sein kann.
Bei der Gestaltung und Verbindung der ortsflexiblen Arbeit mit den Anforderungen des Arbeitgebers mussten im ersten Corona-Semester vermehrt Kompromisse gemacht werden, bei denen zu oft die Beschäftigten hintenanstanden. Häufig gab und gibt es in den Wohnungen und Häusern – wenn überhaupt – lediglich einen Büroarbeitsplatz, der mitunter nur aus einem Küchentisch besteht. Arbeits- und Gesundheitsschutz sind aber umso wichtiger, je mehr mobil für die Dienststellen gearbeitet wird. Da weiter eine bessere Erreichbarkeit erwartet wird oder generell Regelungen für die ortsflexible Arbeit fehlen, fallen oft nicht erfasste Überstunden an. Die Beschäftigten sehen sich so häufig einer Erwartungshaltung gegenüber, (unbezahlte) Überstunden zu erbringen, ohne dass die Arbeitsbedingungen zu diesen Erwartungen passen. Was daran in der absoluten Ausnahmelage der ersten heißen Corona-Phase möglicherweise unumgänglich war, darf nicht die neue Normalität der ortsflexiblen Arbeit werden.
Viele Arbeitsplätze in Technik und Verwaltung lassen sich nicht nach Hause verlegen, z.B. Labore, Botanische Gärten, Werkstätten. Für diese Beschäftigten müssen adäquate Lösungen gefunden werden, wenn die entsprechenden Einrichtungen geschlossen sind. Diese Freistellung darf nicht zu Lasten der Beschäftigten gehen durch Inanspruchnahme von Urlaub oder das Auflösen von Arbeitszeitkonten. Die Arbeitgeber müsse verantwortungsbewusst handeln, um gute Arbeitsbedingungen auch bei der Arbeit zu Hause zu ermöglichen und unzumutbare Belastungen zu verhindern.
Die letzten Monate haben zu einem massiven Ausbau von digitalen Instrumenten der Teamarbeit geführt. Die Einführung von Teamkommunikationssystemen und zahlreichen Tools für virtuelle Kommunikation erleichtern zwar das Arbeiten von zuhause, führt aber auch zu einer schlechteren Trennung von Arbeit und Privatleben.
Aus diesen Gründen müssen schnellstmöglich Home-Office, mobile Arbeit und Telearbeit verpflichtend geregelt werden, unter anderem im Rahmen von Dienstvereinbarungen. Die Arbeitgeber müssen technische Ausrüstung, Arbeitsmöbel und -geräte zur Verfügung stellen. Prinzipiell sollte es nicht zuletzt auch aus Datenschutzgründen allen Lehrenden ermöglicht werden, ihre digitalen Veranstaltungen von einem geeigneten Raum an der Hochschule aus durchzuführen, der den Infektionsschutzrichtlinien entspricht.
Hier braucht es eine verstärkte Wahrnehmung und Umsetzung von Führungsaufgaben durch Vorgesetzte und Verantwortliche, die die Arbeitszeit und den Arbeitsort im Blick haben, die Leistungsanforderungen richtig einzuschätzen wissen und betriebliche Regelungen für die Erreichbarkeit im Homeoffice forcieren und die individuellen Herausforderungen der Beschäftigten berücksichtigen.
Aber auch auf den Kosten für die bereitgestellte Infrastruktur (Hardware, Telefonkosten, Druckerpatronen, notwendiges Upgrade der Internetanbindung, …) dürfen Beschäftigte und Studierende nicht sitzenbleiben.
Denn alle genannten Punkte betreffen nicht nur die Beschäftigten, sondern ebenso viele Studierende in einem neuen weitgehend digitalen Semester. Mangelnde Infrastruktur, wie geringe Bandbreite oder veraltete Computer, kann ihre Teilhabechancen an der Lehre massiv beschneiden. Hier sind Politik aber auch Hochschulen in der Pflicht, um soziale Diskriminierung durch fehlende finanzielle Mittel bei Studierenden zu vermeiden.
Home-Office für Studierende verlangt von ihnen auch, sich selbst zu motivieren. In Corona-Zeiten, stehen Lerngruppen, die das auffangen, viel weniger zur Verfügung. Die Hochschule sollte Lernstoff daher so aufbereiten, dass die Studierenden Hilfestellungen erhalten, die Online-Vorlesungen nachzubereiten und die Studierenden durch Mentoring- und Beratungsangebote unterstützen.
Aktuell zeigt sich, wie dynamisch sich die Bedingungen in der Pandemie verändern können. Gerade deshalb ist Verlässlichkeit für Studierende und Beschäftigte sehr wichtig. Für die kommenden Semester gilt es daher, möglichst früh zu entscheiden, ob und in welchem Umfang Präsenzlehre stattfinden kann, dabei gilt: lieber weniger planen, aber verlässlich, als sich viel vornehmen, was nicht eingelöst werden kann. Es ist besser, wenn frühzeitig feststeht, dass die Lehrveranstaltungen digital stattfinden, selbst wenn sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellt, dass auch Präsensveranstaltungen möglich gewesen wären. Ebenso muss klar sein, dass über Präsenz primär nach dem Prinzip der sachlichen Notwendigkeit, etwa bei (Labor-)Praktika oder auch Veranstaltung im ersten Semester, entschieden wird und nicht nach individueller Neigung oder Geschwindigkeit der Veranstaltungsanmeldung.
Auch in der Deputatsberechnung der angestellten Wissenschaftler*innen muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass neue digitale Lehrformate wesentlich aufwändiger sind. Sie dürfen keinesfalls nur teilweise auf die Deputate angerechnet werden. Fallen Lehrveranstaltungen aufgrund der besonderen Lage mangels Teilnahme aus, so ist das auch in Fragen des Deputats nicht den Lehrenden anzulasten.
Viele Lehrbeauftragte, für die schlecht bezahlte Lehraufträge sie Haupterwerbsquelle sind, befinden sich gerade in einer besonders prekären Situation. Finden Veranstaltungen coronabedingt nicht statt, werden Lehraufträge kurzerhand storniert. Da die Hochschulen durch die missbräuchliche Anwendung von Lehraufträgen wesentlich zu solchen Verhältnissen beigetragen haben, müssen sie nun auch Verantwortung übernehmen. So ist Lehrbeauftragten zum Beispiel in gleichem Maß Zugang zur Online-Lehre zu ermöglichen wie allen anderen Lehrenden.
Gerade für Studienanfänger*innen hängen an Präsenzveranstaltungen, ebenso wie bei Hybridangeboten, auch grundsätzliche Fragen, wie die Notwendigkeit einer Wohnung am Studienort. Das braucht ausreichend Vorbereitungszeit.
Sollte es im Laufe des Semesters erforderlich werden, Präsenzlehre ausfallen zu lassen, dürfen den Studierenden möglichst wenig Nachteile entstehen. Dies bedeutet einerseits angemessenen Nachteilsausgleich bei Prüfungsleistungen, aber auch Lockerungen bei Regelstudienzeit und Fristen zur spätesten Erbringung von Modulen, wie sie in manchen Prüfungsordnungen vorgesehen sind.
Verlässlichkeit in der Planung und Durchführung von Veranstaltungen ist auch für das wissenschaftliche und das wissenschaftsunterstützende Personal insgesamt ein elementarer Aspekt, um die derzeitige Arbeitsbelastung nicht noch weiter zu steigern. „Wir bekommen das hin“ war das Credo des letzten Semesters. Diese Selbstverpflichtung muss nun dringend mit Leitplanken ausgestattet werden. Hierbei liegt der Fokus auf dem Umgang mit Arbeitszeit, der Erreichbarkeit, dem Ausbau digitaler Lehre und allem was dazu gehört. Das hat Dimensionen angenommen, in der die Work-Life-Balance vieler Beschäftigter in Unordnung geraten ist. Wir fordern deshalb eine personelle und infrastrukturelle Ausstattung, die den derzeitigen Anforderungen an das Personal gerecht wird.
Unsere zentralen Forderungen lauten zusammengefasst:
Die Pandemie bleibt für die Hochschulen, Studierenden und Beschäftigten wie für die gesamte Gesellschaft eine sehr belastende Erfahrung. Diese Maßnahmen können dazu beitragen, dass alle fair, sicher, verlässlich und vor allem gesund durch diese Krise kommen.
veröffentlich am 13. November 2020
Hochschulen, Forschungseinrichtungen
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