Die Unternehmens-Caritas und die Unternehmens-Diakonie haben den Antrag für einen branchenweit erstreckten Tarifvertrag in der Altenpflege abgelehnt. Das sorgte zu Recht für Empörung und große mediale Aufmerksamkeit. Die Entscheidung hat wie durch ein Brennglas sichtbar gemacht, dass die großen christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände mit ihren insgesamt rund 1,8 Millionen Beschäftigten einen Sonderstatus im Arbeitsrecht genießen, der nicht nur einzigartig ist, sondern den sie auch rigoros für ihre eigenen Interessen ausnutzen – selbst wenn das wie in diesem Fall auf Kosten tausender Kolleg*innen in der privaten Altenpflege geht.
Kirchen ergeben sich der »Marktlogik«
Mittlerweile seit Jahrzehnten ist das Gesundheits- und Sozialwesen dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt. Das bedeutet jedoch längst nicht, dass das richtig wäre und so bleiben müsste. Auf Verbandsebene merken die Kirchen das in Sonntagsreden und im politischen Umfeld auch immer wieder an und drängen auf Verbesserungen. Doch wirklich tonangebend sind nicht die Kirchen und Verbände, sondern deren Arbeitgeber, die Unternehmens-Caritas und die Unternehmens-Diakonie. Es sind die Arbeitgeberverbände VdDD und AcU, die Vorstände der großen Konzerne und Stiftungen, wie Agaplesion, Bethel, Marienhaus, Johanniter, Malteser und andere, die aller politischen Bemühungen von Kirchen und Verbänden zum Trotz den Marktprinzipien folgen und sich so wie andere, nicht-kirchliche Arbeitgeber gebärden. Anders als bei kommerziellen Konzernen mag es dabei nicht um Gewinnerzielung und Dividendenzahlungen an Anteilseigner*innen gehen. Dennoch wollen und müssen sich die kirchlichen Träger, unter anderem aufgrund der Finanzierungsbedingungen, auf dem »Markt« behaupten und den »Kostenfaktor« niedrig und vor allem flexibel halten, der naturgemäß im sozialen Dienstleistungssektor am höchsten ist: die Personalkosten. Die Unternehmens-Caritas und die Unternehmens-Diakonie haben sich diesen Mechanismen längst gebeugt. Ob Outsourcing, permanente Arbeitsverdichtung oder Lohnsenkung – ihr Verhalten ist in vielen Bereichen nicht mehr von dem anderer Träger zu unterscheiden.
Kirchliche Machtverhältnisse
Der kircheneigene Weg zur Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, der sogar aus der Verfassung hergeleitet wird, ist dafür sehr hilfreich. Man bleibt unter sich, stellt die Regeln selbst auf, nach denen gearbeitet wird. Und gibt es Störungen dieses Weges, werden die kirchlichen Regeln eben angepasst. Alles ohne staatliche Kontrolle oder gar Einflussnahme der Gewerkschaften. Ohne Augenhöhe oder Konsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer*innen werden Mehrheitsbeschlüsse gefällt – oft zu Ungunsten der Beschäftigten. Ein solches Modell hätten kommerzielle Arbeitgeber sicher auch gerne. Die kirchlichen Arbeitgeber trachten danach, diesen nützlichen Sonderweg um jeden Preis zu bewahren.
Das Veto gegen die Erstreckung eines Tarifvertrags über Mindestbedingungen für die Altenpflege durch die Unternehmens-Caritas zeigt eindrucksvoll, wie es um das Machtgefüge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer*innen im kirchlichen System bestellt ist. Es zeigt aber auch den mangelnden Einfluss der Kirchen selbst und ihrer Verbände auf die Arbeitgeber unter ihrem Dach. Jahrelang haben die Verbände von Caritas und Diakonie im Bündnis mit ver.di und den freien Wohlfahrtsverbänden einen möglichen Weg zur Schaffung flächendeckender Mindeststandards in der Altenpflege erarbeitet und dafür die Unterstützung der Arbeitnehmerseite in den beteiligten Arbeitsrechtlichen Kommissionen erfahren. Doch letztlich haben die Arbeitgeber bei Caritas und Diakonie diesen Weg im Alleingang torpediert. Das ist Ausdruck der Machtverhältnisse: In Fragen des Arbeitsrechts haben nicht die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände das Sagen, sondern allein die der Wettbewerbslogik folgenden Mitgliedsunternehmen.
Erhebliche Schäden
Die kirchlichen Unternehmen erbringen Leistungen in vielen verschiedenen Hilfefeldern und erfüllen damit – so ihre eigene Behauptung – den Verkündungsauftrag ihrer jeweiligen Kirchen. Doch wenn sie allein und ohne ihre sozialpolitisch und gesellschaftlich engagierten »Auftraggeber« Entscheidungen mit solch weitreichenden gesellschaftlichen Auswirkungen treffen, wie die Blockade branchenweiter Mindestbedingungen in der Altenpflege, zeigt das eindeutig eine Schieflage. Abgesehen davon hat die Reputation der Verbands-Caritas durch diese Entscheidung ihrer Arbeitgeber erheblichen Schaden genommen. Die öffentliche Empörung ist zu Recht groß. Dass ausgerechnet konfessionelle Träger flächendeckende Mindestbedingungen in der Altenpflege verhindern, mit denen tausende Beschäftigte unter anderem bis zu 25 Prozent mehr Lohn erhalten hätten und die Profitinteressen kommerzieller Konzerne eingebremst worden wären, ist nicht vermittelbar.
»Dritter Weg« um jeden Preis
Laut offiziellen Äußerungen der Arbeitgeberseite der Caritas warnen Arbeitsrechtler davor, der sogenannte Dritte Weg werde durch den beschrittenen Weg zur Festlegung von Mindestbedingungen für die Altenpflege in Frage gestellt. Neben vielen weiteren fragwürdigen Gründen, mit der die Caritas ihre ablehnende Haltung zu rechtfertigen versucht (wir berichteten auf den Seiten dieser Ausgabe zuvor), zeigt diese Äußerung einen erheblichen Bedarf zur Klärung der Rolle konfessioneller Träger mit christlichem Auftrag im Kontext eines wettbewerblich organisierten Sozialwesens. Daran sollte jedenfalls den Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen selbst gelegen sein. Immerhin sind die mehreren zehntausend Einrichtungen von Caritas und Diakonie das »Gesicht« der Kirchen und der erlebten Umsetzung ihres christlichen Auftrags in unserer Gesellschaft. Lassen sie die Arbeitgeber weiter ungehemmt agieren, dürfte es künftig enorm schwierig werden, überhaupt noch einen Unterschied zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Betrieben herzuleiten, die die gleichen Hilfe- oder Versorgungsleistungen für Menschen erbringen. Der kirchliche Sonderweg im Arbeitsrecht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verselbstständigt, die innerkirchlichen Machtverhältnisse haben sich verkehrt. Einer der bislang traurigsten Höhepunkte ist die Ablehnung von Mindestbedingungen für die Altenpflegebranche.
Paradigmenwechsel nötig
Muss es bei diesen Verhältnissen bleiben? Die einen werden das mit Verweis auf das im Grundgesetz verankerte Selbstverwaltungs- und Selbstordnungsrecht der Kirchen bejahen. Dieses besteht allerdings nur innerhalb der für alle geltenden Schranken. An dieser Stelle sei erneut darauf hingewiesen: Ein »Selbstbestimmungsrecht« gibt es nicht. Dennoch leiten die Kirchen daraus seit Ende der 1940er Jahre einen nahezu uneingeschränkten Sonderweg im Arbeitsrecht ab, mit staatlicher Gewähr durch die politisch Verantwortlichen. Doch ist der Status quo zwingend? Nein. Bereits im Jahr 2012 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Urteil über das gewerkschaftliche Streikrecht in kirchlichen Betrieben gezeigt, dass das genannte Recht der Kirchen nicht uneingeschränkt gilt. Es ist überprüfbar und kann mit anderen Grundrechten abgewogen werden, zum Beispiel in diesem konkreten Fall mit der Koalitionsfreiheit von Arbeitnehmer*innen. Auch wenn die Kirchen es gerne anders darstellen: Das BAG-Urteil war eine Niederlage für sie. Denn sie wollten Arbeitskämpfe – als Ausdruck des Grundrechts auf die Koalitionsfreiheit ihrer Beschäftigten – für unrechtmäßig erklären lassen und sind gescheitert.
Gewerkschaftliche Betätigung bis hin zu Streiks ist auch in kirchlichen Betrieben erlaubt. Perspektivisch bedeutet das: Wie weitgehend die Kirchen bzw. ihre Unternehmen sich auf eine Nebenrechtsordnung berufen und somit den sonst geltenden Regeln entziehen können, muss jeweils auf den Prüfstand. Das Streikrechtsurteil von 2012 belegt, dass die Rechte und Grenzen im Arbeitsrecht für die Kirchen nicht »Gott gegeben« sind, sondern viel öfter mit gesellschaftlichen Interessen insgesamt abgewogen werden müssen, insbesondere vom staatlichen Gesetzgeber. Hier sind politischer Mut und säkularer Entscheidungswille gefragt.
Perspektiven
Die Kirchen bzw. vor allem ihre Wohlfahrtsunternehmen erbringen Dienstleistungen in Krankenhäusern, in der Altenpflege, Jugendhilfe, in Kitas und vielen anderen Bereichen. All diese Leistungen werden fast ausschließlich aus Sozialversicherungsbeiträgen und Steuermitteln finanziert – ganz genau so, wie in vergleichbaren öffentlichen, kommerziellen oder freigemeinnützigen Betrieben. Die Finanzierung erfolgt also gesamtgesellschaftlich und nicht aus kirchlichen Mitteln. Das und die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Arbeit sollten künftig als Bewertungsgrundlage dafür dienen, ob ein Sonderweg im Arbeitsrecht hier begründet erscheint. Aktuell rechtfertigt allein der Status als Religionsgemeinschaft den international einzigartigen Sonderweg der Kirchen und ihrer Unternehmen im Arbeitsrecht.
Am Beispiel der Altenpflege könnte dies bedeuten, dass Leistungen künftig ausschließlich dann finanziert werden bzw. die Träger einen Versorgungsvertrag erhalten, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen, zum Beispiel eine Vergütung auf Grundlage einer Tarifbindung nachweisen können. Damit sind ausdrücklich kollektiv wirkende Tarifverträge gemeint – keine kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien, die nur einzelvertraglich vereinbart zur Geltung kommen. Eine derartige Regelung würde der in Art. 140 Abs. 3 GG ebenfalls verankerten und seitens der Kirchen allzu gern vernachlässigten Formulierung »in den Schranken des für alle geltenden Rechts« Rechnung tragen, denn eine entsprechende Änderung des Sozialgesetzbuchs XI würde dafür ausreichen.
Für die Kirchen hätte das eine »freiwillige« Öffnung für Verhandlungen mit Gewerkschaften zur Folge, um zu einer echten kollektiv wirkenden Tarifbindung zu gelangen, die als Refinanzierungsgrundlage dienen könnte. Gleichzeitig müsste sichergestellt werden, dass diese Tarifbindung nicht durch »gelbe Gewerkschaften« zur reinen Gefälligkeit verkommt und damit pervertiert wird. In Bezug auf das Beispiel der flächendeckenden Mindestbedingungen für die Altenhilfe hätte es außerdem zur Folge, dass ein solches Verfahren nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz nicht notwendig gewesen wäre, bei dem die kirchlichen Arbeitgeber im Alleingang über Wohl und Wehe entscheiden können. Denn als Arbeitgeber müssten sie keinen ideologisch aufgeladenen kirchlichen Sonderweg verteidigen, sondern könnten ihrem eigenen Selbstverständnis als Sozialpartner nachkommen – dann allerdings als Tarifpartner, wie andere, nicht-kirchliche Arbeitgeber auch.
Fordern, nicht bitten
Das Gesundheits- und Sozialwesen hat sich nicht erst in der Corona-Pandemie als »systemrelevant« erwiesen. Seine zentrale gesellschaftliche Rolle ist aber spätestens jetzt unumstößlich klargeworden. Es ist leistungsfähig und hält unsere Gesellschaft in dieser krisengeschüttelten Zeit zusammen. Maßgeblich wird es durch die Millionen Beschäftigten getragen, egal ob in öffentlichen, kommerziellen oder kirchlichen Einrichtungen. Es ist allerdings ein Trugschluss, anzunehmen, dass deshalb ihre Arbeit künftig in Form besserer Bezahlung oder besserer Arbeitsbedungen automatisch durch Arbeitgeber und Politik Anerkennung finden wird. Das Beispiel der Altenpflege zeigt das aktuell nur allzu deutlich. Gute Arbeitsbedingungen mit gerechter Entlohnung waren immer und bleiben weiterhin Ergebnis organisierten Handelns der abhängig Beschäftigten. Es ist mehr denn je Zeit, selbstbewusst unsere Forderungen zu stellen und uns dafür gemeinsam einzusetzen. ver.di steht dabei an der Seite aller Kolleg*innen, die loslegen wollen.
Dieser Artikel ist im Kirchen.info Nr. 37 erschienen.