Chancen und Nebenwirkungen

Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht in Kassel diskutiert über die Zusammenhänge von Digitalisierung, Arbeitszeit und Gesundheitsschutz.
14.11.2023

Digitalisierung, Arbeitszeit, Gesundheitsschutz – vor allem um diese Themen drehten sich die Debatten am ersten Tag der 21. Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht am Montag (13. November 2023) in Kassel. Und um die Zusammenhänge zwischen ihnen. »Die Organisation der Arbeitszeit und die Gesundheit hängen unmittelbar zusammen«, stellte Johanna Nold von der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (BAUA) in ihrem Vortrag klar. So schlagen sich laut BAUA-Arbeitszeitbefragung von 2021 unzuverlässige oder lange Arbeitszeiten nicht nur in einer geringeren Work-Life-Balance, sondern auch in einem durchschnittlich schlechteren Gesundheitszustand nieder.

 
Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht 2023 in Kassel

Die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen sind in dieser Hinsicht besonders belastet. Die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen und Ruhezeiten werden seltener eingehalten als im Durchschnitt aller Beschäftigten. Kurzfristige Dienstplanänderungen sind weitaus häufiger, der Leistungsdruck oft stärker. Die statistisch messbaren Folgen: Überforderungsgefühle, Müdigkeit, Schlafstörungen. Wie kann die betriebliche Mitbestimmung hier helfen? Die Arbeitssoziologin Johanna Nold verwies zum einen auf die Verpflichtung der Arbeitgeber, die Arbeitszeiten zu dokumentieren, was unter anderem zu weniger Überstunden führe. Zum anderen könnten psychische Gefährdungsbeurteilungen eine wichtige Rolle spielen, auch arbeitszeitbedingte Belastungen zu identifizieren. Doch nur die Hälfte von ihnen berücksichtige derzeit die Frage der Arbeitszeiten.

Dem »Trend zur Durchrationalisierung« begegnen

Der renommierte Professor für Arbeitsrecht an der Uni Bremen, Wolfgang Däubler, sieht in Gefährdungsbeurteilungen ebenfalls ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen. Und auch bei der Digitalisierung hätten die Interessenvertretungen Möglichkeiten, dem »Trend zur Durchrationalisierung« zu begegnen. Zum einen hätten sie Anspruch auf Informationen, der sich schon aus ihrem Vorschlagsrecht ergebe. Zum anderen könne sich die Mitarbeitervertretung zu den oft hoch komplexen digitalen Systemen von Sachverständigen beraten lassen. Wichtig sei, Beschäftigte bei der Einführung neuer Technologien umfassend zu beteiligen und zu qualifizieren. »Denn wenn man die neue Technik nicht richtig versteht, ist das ein großer Stressfaktor«, erklärte der Jurist, der schon etliche Standardwerke zum Thema veröffentlicht hat. Eine zentrale Aufgabe der Interessenvertretung sei zudem, Leistungs- und Verhaltenskontrolle mittels digitaler Technologien zu unterbinden.

Däubler betonte indes nicht nur die Möglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung. Er verwies auch auf die Tarifbewegungen für Entlastung in Krankenhäusern, mit denen ver.di der Arbeitsverdichtung Grenzen gesetzt hat. Klar sei, dass eine bedarfsgerechte Personalbemessung Geld kostet. »Hier bedürfen die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer Diskussion, die nicht nur im Parlament geführt werden sollte«, sagte Däubler mit Verweis auf das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – Geld, das auch anderes verwendet werden könnte. Zuvor hatte Mario Gembus von der ver.di-Bundesverwaltung auf die von der Bundesregierung geplanten Kürzungen bei Gesundheit, Bildung und Sozialem verwiesen. Diese würden massive Auswirkungen auch auf die Arbeitsbedingungen in den Branchen haben, warnte der Gewerkschafter vor den rund 250 Teilnehmenden der von der Zeitschrift Arbeitsrecht und Kirche gemeinsam mit ver.di, der Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaften und Gesamtausschüsse der Mitarbeitervertretungen in der Diakonie (buko agmav + ga) sowie der Diakonischen ArbeitnehmerInnen Initiative (dia e.V.) organisierten Tagung.

 
Podiumsdiskussion bei der Fachtagung zum kirchlichen Arbeitsrecht 2023 in Kassel

Auch hochkomplexe Prozesse mitbestimmen

Dass die Digitalisierung sowohl Chancen als auch Risiken und Nebenwirkungen beinhaltet, wurde bei einer Podiumsdiskussion betrieblicher Interessenvertreter*innen deutlich. So berichtete die Vorsitzende der Mitarbeitervertretung (MAV) im Albertinen-Krankenhaus Hamburg, Monika Ulbricht, davon, dass der dortige Schreibdienst abgeschafft wurde und die Arztbriefe nun mittels einer Spracherkennungssoftware erstellt werden. »Wir haben es geschafft, dass alle betroffenen Mitarbeiter anderswo untergebracht wurden, zum Beispiel in Sekretariaten. Als MAV müssen wir bei sowas aufpassen und immer ansprechbar sein.«

Doch in manchen Fällen würden die Interessenvertretungen vor der Einführung digitaler Technik nicht einmal gefragt, kritisierte Andreas Schlutter vom Gesamtausschuss der Mitarbeitervertretungen der Diakonie in Bayern. »Die Arbeitgeber wollen dann ganz schnell machen und jede Verzögerung vermeiden. Hier müssen wir eine Auseinandersetzung um unsere Beteiligungsrechte führen.« Allerdings müsse sich auch die Art der Mitbestimmung verändern, um bei den »hochdynamischen und hochkomplexen Prozessen« der Digitalisierung mithalten zu können. Wie das gehen kann, zeigte der MAV-Vorsitzende bei Lobetalarbeit Celle, Thorsten Eggers, auf. Dort habe die Mitarbeitervertretung zum einen eine Rahmen-Dienstvereinbarung erreicht, die den Umgang mit der Digitalisierung grundsätzlich regelt. Zum anderen hat sie eine Pilotvereinbarung geschlossen. »Diese ist zeitlich begrenzt und da kann man dann gucken, was passt und was nicht.«

Politische Rahmenbedingungen verändern

Im Agaplesion Bethesda Krankenhaus Wuppertal hat die Mitarbeitervertretung eine ebenfalls Rahmen-Dienstvereinbarung geschlossen, wie der MAV-Vorsitzende Christfried Tetzner berichtete. Er bedauerte allerdings, dass die MAV in Streitfällen keine weltlichen Arbeitsgerichte anrufen, sondern lediglich vor die kircheninterne Schiedsstelle ziehen kann. Auch viele andere kritisierten in der Debatte die Sonderstellung  der Kirchen im Arbeitsrecht und forderten, dass das Betriebsverfassungsgesetz auch für kirchliche Einrichtungen zur Anwendung kommt. Bei einer von ver.di-Aktiven gestarteten Petition haben sich bereits mehr als 30.000 Menschen für diese Forderung ausgesprochen.

Andreas Schlutter betonte, auch anderweitig müssten die politischen Rahmenbedingungen verändert werden. Der MAV-Vorsitzende der Diakonie München und Oberbayern nannte als Beispiel die stationäre Langzeitpflege, in der mehr Personal zu höheren Eigenbeiträgen der Bewohner*innen führen. Das sei ein »perfides System«, bei dem notwendige Kostensteigerungen für Entlastung und bessere Bezahlung den pflegebedürftigen Menschen aufgebürdet werden. Daniel Wenk vom Gesamtausschuss der diakonischen Mitarbeitervertretungen in Baden plädierte dafür, sowohl auf betrieblicher als auch auf politischer Ebene aktiv zu sein. »Wir müssen unter den Beschäftigten Solidarität erzeugen – als Gegenmacht im Betrieb und gegenüber neoliberaler Politik.«