Kircheninfo: Im September haben Beschäftigte und Arbeitgeber mit einer gemeinsamen Veranstaltung das zehnjährige Bestehen des Tarifvertrags für die Diakonie Niedersachsen gewürdigt. Warum ist das ein Grund zu feiern?
Annette Klausing: Wir haben damit endlich den sogenannten Dritten Weg verlassen, bei dem Arbeitsrechtliche Kommissionen im Hinterzimmer über Löhne und Arbeitsbedingungen entscheiden. Davon wegzukommen war kein einfacher Prozess. Insgesamt hat es vier Jahre gedauert, bis wir den Tarifvertrag am 19. September 2014 unterschreiben konnten. Diesen Schritt, mit dem wir für rund 38.000 Beschäftigte der Diakonie in Niedersachsen reguläre Tarifverhandlungen etabliert haben, wollten wir zum zehnjährigen Jubiläum gemeinsam würdigen.
Ein Vorbild für andere?
Wir hatten gehofft, dass viele andere kirchliche Träger dem niedersächsischen Weg folgen. In Hessen und einigen anderen Regionen ist das zwar geschehen, doch die große Mehrheit kirchlicher Arbeitgeber beharrt leider weiterhin auf ihrem Sonderweg. Dabei haben wir hier in Niedersachsen in den vergangenen zehn Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht.
Der Himmel ist also nicht eingestürzt, weil diakonische Einrichtungen mit ver.di Tarifverhandlungen führen?
Nein, das Abendland ist nicht untergegangen. Ich denke, ich kann auch für die diakonischen Arbeitgeber in Niedersachsen sprechen, wenn ich sage: Wir sind nach wie vor zufrieden, diesen Weg gemeinsam gegangen zu sein.
Verhält sich die Diakonie in den Tarifverhandlungen anders als andere Arbeitgeber?
Nach meinem Empfinden nicht. Wir sind jetzt normale Tarifpartner. In den Verhandlungen sind wir oft unterschiedlicher Meinung – schließlich repräsentieren wir auch unterschiedliche Interessen. Als ver.di bauen wir die Tarifbewegungen so auf wie anderswo: Die Mitglieder diskutieren die Forderungen, wählen eine Tarifkommission und machen Aktionen, um gute Ergebnisse zu erreichen. Sie sind also unmittelbar beteiligt und bestimmen darüber mit, unter welchen Bedingungen sie arbeiten.
Wie werden Konflikte am Verhandlungstisch aufgelöst?
Zum einen versuchen wir, inhaltlich zu überzeugen. Als ver.di orientieren wir uns immer daran, mindestens das materielle Niveau des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) zu erreichen – wobei wir an manchen Stellen gerne auch darüber hinausgehen. Das unterfüttern wir mit guten Argumenten. Zum anderen ist klar, dass das alleine nicht reicht. Wir kommen nur zu guten Lösungen, wenn die Kolleg*innen in den Betrieben deutlich machen, dass sie hinter unseren Forderungen stehen und bereit sind, sich dafür einzusetzen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass wir sie bei jedem Schritt informieren und einbeziehen, zum Beispiel mit Befragungen und Videokonferenzen.
Wie genau können die Beschäftigten bei den Tarifverhandlungen mitbestimmen?
Wir haben zum Beispiel in der letzten Tarifrunde eine digitale Forderungsbefragung gemacht. Die Kolleg*innen konnten ankreuzen, was ihnen wichtig ist, aber auch, was sie bereit sind zu tun, um ihre Forderungen durchzusetzen. Übrigens konnten sich daran nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle Beschäftigten beteiligen.
Die ver.di-Mitglieder wählen die ehrenamtliche Tarifkommission, die über Forderungen und Kompromisse entscheidet. In den Betrieben haben wir Tarifbotschafter*innen gewonnen, die als Bindeglied zwischen der Tarif- bzw. Verhandlungskommission und den Beschäftigten vor Ort fungieren. Sie werden nach jeder Verhandlungsrunde über den Stand informiert und können mitreden. So bekommen die Kolleg*innen direkt mit, welche Knackpunkte es gerade gibt, wo sich Kompromisse abzeichnen und wo es noch Differenzen gibt. Das finde ich total wichtig, denn Tarifverhandlungen sind keine abgehobene Veranstaltung irgendwo weit weg. Es geht um die Belange der Beschäftigten, deshalb müssen diese beteiligt sein.
Wie hat sich der Tarifvertrag im Laufe des Jahrzehnts weiterentwickelt? Habt ihr lediglich das nachvollzogen, was im TVöD vereinbart wurde?
Nein, wir haben hier teilweise sehr spezifische Dinge geregelt. Ein bisschen stolz bin ich beispielsweise darauf, dass wir schon vor Jahren eine tarifliche Ausbildungsvergütung in der Heilerziehungspflege vereinbart haben. Wir wollten nicht nur über den Fachkräftemangel reden, sondern ihn bekämpfen, indem wir dafür sorgen, dass Menschen in der Ausbildung eine Vergütung erhalten, von der sie leben können. In der letzten Tarifrunde haben wir einen Vertretungszuschlag vereinbart: Wer freiwillig einspringt, erhält 100 oder 120 Euro extra. Wir weichen also in manchen Bereichen vom TVöD ab, haben aber stets das Ziel, materiell mindestens gleichwertige Abschlüsse zu machen. Das ist uns gelungen.
Manche Kirchenfunktionäre warnen, bei Tarifverhandlungen würde ständig gestreikt. Ist das in Niedersachsen so?
Wir haben in den vergangenen zehn Jahren nicht gestreikt. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns dazu verpflichtet haben, bevor wir zum Streik aufrufen, eine Schlichtung zu durchlaufen. Wir waren schon so manches Mal kurz davor, mussten die Schlichtung letztlich aber doch nicht anrufen, weil wir am Verhandlungstisch für beide Seiten akzeptable Kompromisse gefunden haben. Es zeigt sich also, dass Tarifverhandlungen nicht ständige Streiks nach sich ziehen. Das wäre auch ohne Schlichtungsvereinbarung so. Wir meinen, dass diese verzichtbar ist und wir uns mittelfristig auch in dieser Hinsicht an das normale Prozedere bei Tarifverhandlungen angleichen sollten.
Beschäftigte und Träger haben beide ein Interesse daran, dass das Sozial- und Gesundheitswesen auskömmlich finanziert wird. Ziehen diakonische Arbeitgeber und Gewerkschaften in Niedersachsen hier an einem Strang – trotz der Konflikte bei Tarifverhandlungen?
Wenn es darum geht, gegenüber den Kostenträgern und öffentlich eine gute Finanzierung einzufordern, sind wir potenzielle Bündnispartner. Das klappt recht gut und das ist auch Teil des Erfolges: Beide Seiten können gut trennen zwischen Tarifverhandlungen und politischem Engagement. Auf der Tarifebene sind wir Verhandlungs- und Konfliktpartner, haben Meinungsverschiedenheiten, die wir aushalten müssen. Das gehört dazu.
Interview: Daniel Behruzi
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