»Wir zeigen uns jetzt«

Beschäftigte aus diakonischen Pflegeeinrichtungen in Hessen können ihre Arbeitsbedingungen erstmals in Tarifverhandlungen selbst mitgestalten.
30.06.2023

»Im Himmel gibt es keine Inflation – auf Erden schon«, steht auf einem Transparent, das die Kolleg*innen der DiaCom Altenhilfe gGmbH im nordhessischen Eschwege am Donnerstag (22. Juni 2023) vor ihrer Einrichtung in die Höhe halten. Darunter stehen die Tarifforderungen – 450 Euro mehr im Monat und eine sofortige Inflationsausgleichprämie – sowie die Unterschriften von mehr als 550 Beschäftigten.

 
Beschäftigte aus der diakonischen Altenpflege demonstrieren im nordhessischen Eschwege für höhere Löhne.

»Es ist für uns etwas Neues, dass wir bei Lohnverhandlungen mitsprechen können«, erklärt Franziska Keudel, die die Petition gemeinsam mit einer Kollegin an den Arbeitgeber übergeben hat. Denn in der Vergangenheit wurden Bezahlung und Arbeitsbedingungen in kircheninternen »Arbeitsvertragsrichtlinien« festgelegt. Damit haben ver.di und der »Diakonische Dienstgeberverband Altenhilfe Hessen« letztes Jahr Schluss gemacht. Seit April 2022 gilt für rund 1.700 Beschäftigte verschiedener diakonischer Träger ein Tarifvertrag. Derzeit werden die Entgelte neu ausgehandelt – unter direkter Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen.

»Richtig gut« findet das die gelernte Heilerziehungspflegerin Franziska Keudel, die als Teamleiterin bei DiaCom in der Sozialen Betreuung arbeitet. Die ver.di-Mitglieder aus Eschwege sind mit vier Mandaten in der ehrenamtlichen Tarifkommission vertreten. Dort und durch Aktionen können sie auf die Verhandlungen direkt Einfluss nehmen. »Wir zeigen uns jetzt«, sagt Franziska Keudel selbstbewusst. Besonders wichtig ist ihr, dass alle vom Tarifabschluss profitieren. »Ohne Hauswirtschaft, Haustechnik, Betreuung, Hilfs- und Küchenkräfte und all die anderen läuft es nicht. Deshalb müssen alle Berufsgruppen angemessen vergütet werden.«

Das bekräftigt auch Sebastian Perels, der sich in der ver.di-Verhandlungskommission engagiert. »Die unteren Entgeltgruppen leiden besonders unter der Inflation. Damit sie prozentual stärker vom Tarifabschluss profitieren, fordern wir einen Festbetrag von 450 Euro mehr im Monat.« Die Arbeitgeber hätten sich bei den Verhandlungen offen gezeigt, sie sollen am 26. Juli fortgesetzt werden.

»Ich bin seit 25 Jahren im Betrieb und es ist das erste Mal, dass wir eine solche Protestaktion auf die Beine gestellt haben«, sagt der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung über die Kundgebung, zu der auch Kolleg*innen aus Südhessen angereist waren. Früher, auf dem kirchlichen »Dritten Weg«, sei das Engagement der Beschäftigten nicht gefragt gewesen. »Da wurde irgendwann aus dem Nichts heraus ein Ergebnis verkündet. Jetzt sind wir so dicht an den Verhandlungen wie noch nie«, erklärt Sebastian Perels. Als Mitglied der ver.di-Verhandlungskommission versuche er, möglichst große Transparenz zu schaffen. »Wir diskutieren über unsere Forderungen und berichten, wie sich der Arbeitgeber dazu verhält, so dass alle auf dem Laufenden sind. Die Kolleginnen und Kollegen werden einbezogen und merken zunehmend, dass sich ihr Engagement lohnt. Da entwickelt sich was!«

 

Gemeinsam für bessere Finanzierung

ver.di und der »Diakonische Dienstgeberverband Altenhilfe Hessen« (DV.DAH) führen nicht nur Tarifverhandlungen. Sie setzen sich auch gemeinsam für eine bessere Finanzierung der Altenpflege ein. So am 26. Juni bei einem Werkstattgespräch mit den sozialpolitischen Sprecherinnen der Landtagsfraktionen im hessischen Landtag. Der DV.DAH-Sprecher Oswald Beuthert forderte unter anderem, das Land müsse Investitionen der Pflegeeinrichtungen stärker bezuschussen. Der Geschäftsführer der WDS Altenhilfe + Pflege gGmbH in Bad Arolsen verwies darauf, dass viele Bewohner*innen von Pflegeheimen im ersten Jahr Eigenbeiträge von über 3.000 Euro im Monat leisten müssen. »Weitere Steigerungen sind da kaum vorstellbar, zumal schon jetzt sehr viele Heimbewohner trotz ordentlicher Rente auf eine ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind.«

Der ver.di-Landesfachbereichsleiter Georg Schulze betonte ebenfalls, Pflegebedürftigkeit dürfe kein Armutsrisiko sein. Die Gewerkschaft hat mit der »Solidarischen Pflegegarantie« ein Konzept vorgelegt, das eine bedarfsgerechte Finanzierung der Pflegeversicherung durch alle Einkommensgruppen sowie die Absicherung aller pflegebedingter Kosten ermöglichen würde. Im ersten Schritt fordert sie, dass die Eigenanteile der Bewohner*innen gedeckelt werden, damit notwendige Tariferhöhungen nicht zu ihren Lasten gehen. »Wir wollen den hohen beruflichen Anforderungen im Pflegebereich und der enormen gesellschaftlichen Bedeutung aller in den Pflegeieinrichtungen Beschäftigten mit entsprechenden Entgelten Rechnung tragen«, betonte Schulze mit Bezug auf den in Hessens Diakonie erreichten Tarifvertrag. »Denn gutes Personal ist nur mit attraktiven Löhnen und verlässlichen Arbeitszeiten zu bekommen.«