Grenzen der kirchlichen »Selbstbestimmung«

    Arbeitsrechtler Peter Stein schrieb ein umfassendes Gutachten zum kirchlichen Arbeitsrecht. Im Interview legt er dar, warum die kirchlichen Privilegien enden müssen.
    24.05.2023

    Der ehemalige Hamburger Arbeitsrichter Peter Stein hat im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie zu den Grenzen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Arbeitsrecht erstellt. Dabei konnte er auch auf seine Expertise aus der gerichtlichen Vertretung von Vera Egenberger zurückgreifen, die am Europäischen Gerichtshof ein wegweisendes Urteil zur Diskriminierung bei der kirchlichen Einstellungspraxis erstritten hat (EuGH-Urteil vom 17.04.2018, Az. C-414/16).

     
    Peter Stein
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    Peter Stein

    Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz werden die Kirchen ausgenommen (§ 9 AGG). Bedeutet das, dass kirchliche Arbeitgeber nicht an das Diskriminierungsverbot gebunden sind?

    Paragraph 9 AGG enthält lediglich die Regelung, dass die Kirchen unter bestimmten Voraussetzungen von der Vorgabe abweichen dürfen, Beschäftigte gleich zu behandeln. Das ändert aber nichts daran, dass das AGG grundsätzlich auch für die Kirchen gilt. Die Debatte dreht sich um die Auslegung des Paragraph 9. Es kommt laut europäischer Rechtsprechung nicht allein auf das kirchliche Ethos an. Die Kirchen können also nicht, wie vom Bundesverfassungsgericht behauptet, einfach selbst festlegen, ob bestimmte Anforderungen und damit eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sind. Der Europäische Gerichtshof sagt: Ob Anforderungen – zum Beispiel die Kirchenmitgliedschaft – wegen der Art der Tätigkeit berechtigt sind, muss objektiv entschieden werden. Die staatlichen Arbeitsgerichte üben laut EuGH also eine volle Rechtskontrolle aus und dürfen nicht nur prüfen, ob die Sicht der Kirchen plausibel ist.

    Wie wirkt sich die Sonderregelung im AGG in der Praxis aus?

    Insbesondere die katholische Kirche will weiterhin in die Privatsphäre der Beschäftigten eingreifen. Immer noch wollen die Kirchen wegen eines Kirchenaustritts kündigen. Das verunsichert Beschäftigte und macht ihnen Angst. Dabei besteht nicht nur die positive, sondern auch die negative Koalitionsfreiheit: Auch der Austritt aus der Kirche ist ein Grundrecht.

    Die Kirchen berufen sich auf ihr Selbstordnungsrecht, das ihnen bereits in der Weimarer Reichsverfassung und nun im Grundgesetz garantiert wird. Rechtfertigt dies ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht?

    Das Kündigungsschutzgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das Mutterschutzgesetz und andere Arbeitsschutzgesetze gelten auch für kirchliche Arbeitgeber. Sie haben lediglich einige Privilegien. Das wichtigste ist, dass die Kirchen vom Betriebsverfassungsgesetz ausgenommen sind. Das hat zur Folge, dass die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten nicht greifen. Die Kirchen haben stattdessen eigene Regularien aufgestellt, die an die Qualität des Betriebsverfassungsgesetzes nicht heranreichen. Vor allem die Durchsetzung von Beschlüssen oder kirchengerichtlichen Entscheidungen ist für kirchliche Mitarbeitervertretungen deutlich schwerer als für weltliche Betriebsräte. Auch bei der Unternehmensmitbestimmung sind die Kirchen außen vor.

    Wie ist das historisch zu erklären?

    Im wilhelminischen Kaiserreich waren die Kirchen Teil des Staatswesens, Pastoren waren Staatsbeamte. Nach der Revolution von 1918 wurde damit gebrochen: Die Kirchen sollten ihre eigenen Angelegenheiten fortan selbst regeln. Dabei war klar, dass nur weil die Kirche etwas tut, dies nicht automatisch als eigene Angelegenheit gilt, sondern dass es um Verkündigung geht. In Weimar ist gar nicht infrage gestellt worden, dass das Betriebsrätegesetz von 1920 – der Vorläufer des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes – selbstverständlich auch für kirchliche Betriebe galt. Auch Arbeitskämpfe kirchlicher Beschäftigter kamen vor.

    Im bundesdeutschen Grundgesetz wurde die entsprechende Regelung aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Doch in den 1950er Jahren haben die Kirchen die antikommunistische Atmosphäre, in der man sich vor allem von der DDR abgrenzen wollte, sehr geschickt genutzt, um sich unter der Adenauer-Regierung im Arbeitsrecht eine privilegierte Stellung zu verschaffen. Dazu beigetragen hat der damals große Einfluss des sogenannten naturrechtlichen Denkens. Anders als das positive Recht, das sich am geschriebenen Recht orientiert, argumentiert das Naturrecht mit vermeintlich übergeordneten Werten wie »den guten Sitten«. Mit Hilfe dieser Denkfiguren hat die höchstrichterliche Rechtsprechung die Rechte der Kirchen ausgeweitet – weit über die Weimarer Reichsverfassung hinaus. Die Weichenstellungen aus dieser Zeit wirken bis heute nach.

    Die europäischen Gerichte haben dem kirchlichen Sonderweg in Deutschland zuletzt Grenzen gesetzt. Mit welchem Tenor?

    Der Kern ist, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) nicht auf die subjektive Auffassung der Kirchen abstellt, sondern auf die Art der ausgeübten Tätigkeit. Wenn für diese zum Beispiel eine Kirchenmitgliedschaft nicht erforderlich ist, dann darf sie für das Beschäftigungsverhältnis auch nicht zur Voraussetzung gemacht werden.

    Sind hier nicht verschiedene Grundrechte betroffen – die der Kirchen und die der Beschäftigten?

    Ganz genau. Wir haben das Grundrecht der Religionsgemeinschaften, ihren Glauben frei zu praktizieren. Zugleich besteht das Recht der Beschäftigten, zu glauben oder nicht zu glauben – positive und negative Religionsfreiheit. Die europäischen Gerichte argumentieren, dass diese Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen – auch für deutsche Juristinnen und Juristen ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht spricht ebenfalls von einer Abwägung, sagt aber zugleich, die Grundrechte der kirchlichen Arbeitgeber seien per se stärker zu berücksichtigen. Dafür gibt es überhaupt keine Rechtfertigung.

    SPD, Grüne und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das kirchliche Sonderrecht zu überprüfen. Was empfehlen Sie der Bundesregierung?

    Mit der Herausnahme der Kirchen aus dem Betriebsverfassungsgesetz muss Schluss sein. Dasselbe gilt für die Unternehmensmitbestimmung. Das Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz müsste in Paragraf 9 dahingehend präzisiert werden, dass die Sonderrechte der Kirchen nur bei verkündigungsnahen Tätigkeiten gelten – also nicht für die Hebamme, den Gärtner oder die Verwaltungskraft. Wo es nicht unmittelbar um Verkündigung geht, gibt es keinen Grund für kirchliche Privilegien.

    Interview: Daniel Behruzi

     

    Peter Stein: Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Arbeitsrecht und seine Grenzen, HSI-Schriftenreihe Band 47, Januar 2023.

    Download:https://bit.ly/3B631a0


    Unmittelbar zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe des Kirchen.infos hat uns die traurige Nachricht erreicht, dass Peter Stein am 24. April 2023 verstorben ist. Peter war als Rechtsanwalt und ehemaliger Arbeitsrichter tätig und als solcher überaus anerkannt und verdient. Seine fachliche Expertise war für uns unschätzbar und wir hatten mit ihm stets einen verlässlichen Mitstreiter für die Rechte von Arbeitnehmenden. Nicht zuletzt war Peter ein Mensch, mit dem wir gern berieten, diskutierten und lachten. Er wird uns fehlen. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie und Freunden.

     

    Dieser Artikel ist im Kirchen.info Nr. 41 erschienen.

     

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