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Steigbügelhalter für Gewinninteressen

18.05.2021

Vor etwa 25 Jahren wurde die Altenpflege für kommerzielle Anbieter geöffnet. Inzwischen macht deren Anteil rund die Hälfte der 30.000 Einrichtungen und Dienste aus. Großkonzerne und Finanzinvestoren haben die Altenpflege als profitträchtiges Betätigungsfeld entdeckt. Tarifverträge und Betriebsräte gibt es in diesen Einrichtungen kaum. Diese Träger stellen sich Tarifverträgen meist grundsätzlich entgegen. Die Löhne sind oft miserabel. In Sachsen-Anhalt bekommt mehr als die Hälfte der examinierten Pflegekräfte weniger als monatlich 2.500 Euro in Vollzeit. Der Teilzeitanteil liegt bei rund zwei Dritteln. Die beiden Arbeitgeberverbände der kommerziellen Träger sehen ihre Rolle als Tarifverhinderer. Verhandlungsaufforderungen von ver.di wurden abgelehnt. Der Arbeitgeberverband Pflege will gar gerichtlich feststellen lassen, dass ver.di nicht tariffähig sei. Weltliche Wohlfahrtsverbände haben unter dem Wettbewerbsdruck ihre »Konzerntarifverträge« weitgehend zugunsten von regionalen Tarifverträgen aufgegeben. Viele Gliederungen haben die Tarifbindung ganz aufgekündigt. Besonders dramatisch ist die Situation im Osten des Landes. An der tariflichen Gesamtsituation hat auch die Tatsache nichts geändert, dass seit 2015 gesetzlich festgeschrieben ist, dass tarifvertragliche Gehälter bei Pflegesatzverhandlungen nicht mehr als unwirtschaftlich abgelehnt werden dürfen. Der seit 2010 bestehende Pflegemindestlohn hat sich als totes Pferd erwiesen, weil die Arbeitgeber, insbesondere die kommerziellen Träger, jedwede grundsätzliche Verbesserung in der Kommission blockieren. Einer klassischen Allgemeinverbindlichkeitserklärung über das Tarifvertragsgesetz steht ebenfalls die Blockade der Arbeitgeber im Tarifausschuss entgegen. Entsprechende Anträge in Bremen und Niedersachsen sind bereits daran gescheitert.

Gemeinsame Lösungssuche

In einem Bündnis mit Verbänden, darunter Diakonie und Caritas, wurden Wege gesucht, wie dieser Entwicklung etwas entgegengesetzt werden kann. Ergebnis: eine Rechtsverordnung nach § 7a Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Damit können Regelungen eines Tarifvertrages über Mindestarbeitsbedingungen für die gesamte Altenpflege verbindlich erstreckt werden. Das dafür notwendige Kriterium des öffentlichen Interesses ist unstrittig. Das Gute: Bessere Regelungen bleiben davon unberührt. Die Caritas und die Diakonie haben sich in der von der Regierung einberufenen Konzertierten Aktion Pflege ausdrücklich hinter diesen Weg gestellt. Für deren Beteiligung wurde mit dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz die Grundlage geschaffen; Caritas und Diakonie waren eng eingebunden.

Anhörung der Arbeitsrechtlichen Kommissionen

Ein Teil der Wohlfahrtsverbände gründete die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und verhandelte mit ver.di einen entsprechenden Tarifvertrag, der die Mindestentgelte um rund 25 Prozent erhöhen sollte. Wie es das AEntG vorschreibt, wurden die Arbeitsrechtlichen Kommissionen (ARK) der Caritas und Diakonie zum voraussichtlichen Ergebnis angehört. In mehrstündigen Sitzungen wurden die Regelungen offen, kritisch und auf Augenhöhe besprochen. Im endgültigen Ergebnis wurden die Hinweise der ARKen von den Tarifpartnern im möglichen Umfang berücksichtigt. Das Gesamtziel schien greifbar nahe.

Mindestbedingungen per Tarifvertrag verhindert

Am 25. Februar 2021 haben die Arbeitgeber in der ARK der Caritas nicht zugestimmt und damit ihr gesetzlich eingeräumtes Beteiligungsrecht pervertiert. Die ARK der Diakonie Deutschland nahm die Abstimmung danach gleich ganz von der Tagesordnung. Mit weitreichenden Folgen: Damit der Bundesarbeitsminister den Tarifvertrag auf die Branche erstrecken kann, ist ein gemeinsamer Antrag der Tarifparteien nötig, der die Zustimmung der ARKen von Caritas und Diakonie erfordert. Diese Zustimmung fehlte nun. Der Tarifvertrag kann nicht erstreckt werden. Hunderttausende Pflegepersonen, vor allem bei den kommerziellen Pflegeanbietern, sind die Verlierer*innen.

Schaden für Caritas und Diakonie

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war daran nicht unbeteiligt. Er erweckte unmittelbar zuvor den Eindruck, es gäbe eine gesetzliche Alternative. Der im März bekannt gewordene Arbeitsentwurf würde jedoch die Tarifautonomie verletzen, Flächentarifverträge schwächen, für weniger tatsächliche Tarifbindung sorgen, einer höheren Bezahlung in der Fläche durch Einführung der "Ortsüblichkeit" entgegenstehen und somit die aktuell schlechte Bezahlungssituation vieler Pflegepersonen sogar zementieren. Der Honig, den Jens Spahn den Mitgliedern der ARKen auf den Arbeitgeberseiten vor ihren Abstimmungen um den Bart geschmiert hat, entpuppt sich als Vogelleim. Letztlich haben sich die Arbeitgeber von Unternehmens-Caritas und -Diakonie zu Steigbügelhaltern privater Profitinteressen gemacht und dem Image ihrer Verbände enormen Schaden zugefügt.

Großer Handlungsbedarf für gute Pflege

Durch Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen ist wissenschaftlich belegt, dass für eine bedarfsgerechte Pflege 36 Prozent mehr Personal in der stationären Langzeitpflege eingesetzt werden müsste. Das Konzept für bundeseinheitliche Personalvorgaben liegt vor. Im Arbeitsentwurf von Jens Spahn werden die Personalvorgaben jedoch nur als Höchstwerte verankert und desren Umsetzung an arbeitsmarktpolitischen Gegebenheiten ausgerichtet. Das ist ein absolut fatales Signal an die Beschäftigten und an die pflegebedürftigen Menschen.

Bedarfsgerechte Personalvorgaben, gute Versorgung und flächendeckende tarifliche Entlohnung kosten Geld. Schon jetzt werden Pflegebedürftige mit rasant steigenden Eigenanteilen konfrontiert. Ein durchschnittlicher Heimplatz kostet für sie aktuell im Bundesschnitt monatlich 2.068 Euro. Davon sind allein 831 Euro pflegebedingte Kosten, die eigentlich die Pflegekasse tragen müsste. Deren Leistungen sind jedoch gedeckelt. Die Kosten tragen die Bewohner*innen. Inzwischen beziehen mehr als 30 Prozent von ihnen Sozialhilfe. Von einer im ersten Schritt notwendigen harten Begrenzung der Eigenanteile, wie ver.di sie fordert, ist im SpahnBschen Arbeitsentwurf nicht mehr viel übrig. Durch eine prozentuale Regelung würden die Eigenanteile zukünftig weiter steigen. Es braucht daher einen Systemwechsel. Die Pflegeversicherung muss zu einer Bürgerversicherung umgebaut werden, in die alle entsprechend ihres Einkommens solidarisch einzahlen und die dadurch in der Lage ist, alle pflegebedingten Leistungen bedarfsgerecht zu tragen. ver.di hat dafür ein finanzierbares Konzept: die Solidarische Pflegegarantie (Mehr Informationen unter gemeinsamesache.verdi.de).

 

Dieser Artikel ist im Kirchen.info Nr. 37 erschienen.

 

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