Der kirchliche Sonderweg beim Arbeitsrecht steht in der Kritik. SPD, Grüne und FDP wollen laut Koalitionsvertrag die Angleichung ans weltliche Arbeitsrecht prüfen. Über 30.000 Menschen haben bislang eine von ver.di-Aktiven initiierte Petition unterschrieben, mit der die Streichung der Ausnahmen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz gefordert wird. Und in den Betrieben steigt die Bereitschaft, das angebliche Streikverbot zu ignorieren und sich für die eigenen Belange aktiv einzusetzen – zuletzt zum Beispiel im Frühjahr in der Tarifbewegung des öffentlichen Dienstes. Vor diesem Hintergrund sehen sich die Kirchen veranlasst, in den Dialog zu treten. Das allerdings nicht mit den Betroffenen, also den Beschäftigten, Gewerkschaften und Mitarbeitervertretungen aus dem evangelischen Bereich. Diese fehlten auf den Podien der von der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und der Diakonie am 8. November 2023 in Berlin organisierten Tagung »Konfliktlösungen ohne Kampf – Perspektiven für zukünftige Wege einer kirchengemäßen strukturierten Konfliktlösung«.
»Ich habe mich schon gefragt, an wen sich diese Veranstaltung eigentlich richtet«, sagte die Vorsitzende des Gesamtausschusses der Mitarbeitervertretungen der Diakonie in Mitteldeutschland. »Man spricht über die Mitarbeiter und ihre Interessenvertretungen – aber nicht mit ihnen. Man spricht über das Streikrecht und die Gewerkschaften – aber nicht mit ihnen. Was soll das?« Stattdessen hatten Kirche und Diakonie zum Teil Referent*innen geladen, die der grundsätzlichen Einschränkung von Arbeitnehmerrechten das Wort reden. So bekräftigte Professor Martin Franzen von der Ludwig-Maximilians-Universität in München die von ihm und anderen Professoren im Auftrag der Carl Friedrich v. Weizsäcker-Stiftung vorgelegten Vorschläge zur Reglementierung des Streikrechts in der Daseinsvorsorge.
In eine ähnliche Richtung gingen die Ausführungen von Kareen Vaisbrot vom Schweizer Arbeitgeberverband der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (swissmem). Sie stellte ein System dar, in dem bei Verhandlungen eine absolute Friedenspflicht der Gewerkschaften gilt. Mit der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit und der hierzulande sonst praktizierten Tarifautonomie ist das wohl kaum vereinbar. »Dass die Kirche ausgerechnet solche neoliberalen und letztlich antidemokratischen Kronzeugen auffährt, lässt tief blicken«, kommentierte Daniel Wenk vom Gesamtausschuss der diakonischen Mitarbeitervertretungen in Baden. »Die Not und Delegitimierung des kirchlichen Sonderwegs müssen wahrlich groß sein.«
Wie widersprüchlich und unter Druck die kircheneigenen Sonderregeln sind, wurde bei der Tagung indes auch ohne Gewerkschaftsvertreter auf den Podien deutlich. So stellte der Professor für systematische Theologie an der Karl-Ruprecht-Universität in Heidelberg, Thorsten Moos, fest, dass der sogenannte Dritte Weg zunehmend ein Problem hinsichtlich der Legitimation seines Verfahrens habe. Die Notwendigkeit eines Streikverbots werde bislang nicht schlüssig von der Kirche begründet. Moos empfahl vor diesem Hintergrund, den Ausgleich des Interessengegensatzes pragmatisch zu behandeln und theologisch abzurüsten.
Professor Jacob Joussen von der Ruhr-Universität Bochum identifizierte drei Gefahren, auf die Kirche und Diakonie besser früher als später reagieren sollten. Erstens könne sich die Rechtsprechung zu ihren Ungunsten verändern, zum Beispiel durch Arbeitsgerichtsurteile, die Streikaufrufe von Gewerkschaften in kirchlichen Einrichtungen erneut für legitim erklären. Zweitens könne der sogenannte Dritte Weg kircheninterner Festlegung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zum Beispiel dadurch implodieren, dass sich die Arbeitnehmerseite aus der Mitarbeit zurückziehe. Drittens wachse die Widersprüchlichkeit innerhalb der verschiedenen kirchlichen Regeln, was wiederum zu neuer Rechtsprechung führe. Joussen appellierte eindringlich an Kirchen- und Diakonieverantwortliche, nicht darauf zu warten, dass staatliche Gerichte ihr Handeln erzwingen. Insbesondere die bisherigen Schlichtungsverfahren seien nicht zukunftssicher. Noch bestehe für den »Dritten Weg« zwar keine akute Gefahr, so Joussen, aber »das Wetterleuchten wird heller«.
Dabei gibt es Alternativen. Dass das kirchliche Sonderrecht kein Muss ist, machte ein Vortrag von Professor Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung mit Verweis auf Erfahrungen in Österreich deutlich. Dort bestünden ähnliche Verfassungsregeln für die Religionsgemeinschaften wie in Deutschland. Doch schlössen die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände mit den Gewerkschaften normale Tarifverträge ab. Es gebe weder einen »Dritten Weg« noch besondere Zwangsschlichtungsverfahren. Schultens Fazit: »Kirche und Tarifverträge sind möglich, warum nicht auch in Deutschland?!« Dazu gehöre auch das Recht auf Streik, der kein Selbstzweck sei.
Professor Traugott Jähnichen von der Ruhr-Universität Bochum ergänzte, der Streik sei sinnbildlich als Schwert an der Wand notwendig, denn in Tarifverhandlungen gehe es um Handlungsmacht, insbesondere die der Arbeitnehmerseite. Ohne den Streik als letztes Mittel fehle dieses Druckmittel. Dies sei auch der Grund, weshalb Verbände wie der Verband kirchlicher Mitarbeitender keine wirkliche Handlungsmacht gegenüber der Arbeitgeberseite besitzen. Zudem könne von freien Gewerkschaften nicht verlangt werden, auf das Streikrecht zu verzichteten, das zu ihrem Selbstverständnis gehört.
Als Essenz der Veranstaltung bleibt festzuhalten: Der kirchliche Sonderweg steht infrage. Einige Kirchenrechtler machten deutlich, dass es besser wäre, selbst Reformen vorzunehmen, als sich in einigen Jahren durch Gerichte erneut Veränderungen aufzuzwingen lassen zu müssen. Aus gewerkschaftlicher Sicht stellt sich allerdings die Frage: Warum weiterhin solche theoretischen und juristischen Diskussionen führen? Die Alternative liegt auf der Hand. ver.di ist bereit, weitere Tarifverträge mit den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden abzuschließen. Geht es der Kirchenspitze um gute Lohn- und Arbeitsbedingungen? Oder vor allem um die Sicherung der eigenen Machtposition? Falls Ersteres, steht ver.di als bewährte Sozialpartnerin zur Verfügung, über Tarifverträge zu verhandeln.