Am 24. November 2021 hat die Koalition aus SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag veröffentlicht. Das 177 Seiten starke Papier enthält erstmals in einem Koalitionsvertrag einer Bundesregierung auch ein Vorhaben, das sich auf die kirchliche Nebenrechtsordnung im Arbeitsrecht bezieht. Es handelt sich um zwei Sätze, die sich im Abschnitt „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ befinden. Die Formulierung lautet: „Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.“ Ein erster Impuls lässt Hoffnung bei allen Freund*innen stärkerer Beschäftigtenrechte in kirchlichen Einrichtungen aufkommen. Immerhin sind bereits mehr als 70 Jahre seit der Verselbständigung der kirchlichen Nebenrechtsordnung im Arbeitsrecht unter staatlicher Gewähr vergangen und der Handlungsbedarf für die Stärkung von Arbeitnehmerrechten in kirchlichen Betrieben ist größer denn je. Wie hoch dürfen die Erwartungen an die vorliegende Vereinbarung im Koalitionsvertrag demnach sein?
Es ist bemerkenswert, dass erstmals in einem künftigen Regierungsprogramm das kirchliche Arbeitsrecht Erwähnung findet. Damit wird aufgegriffen, was die Gewerkschaften seit vielen Jahren fordern, insbesondere ver.di. Es ist zwar noch kein Durchbruch, aber ein begrüßenswerter erster Schritt auf dem Weg zur Stärkung der Rechte von rund 1,8 Mio. Arbeitnehmer*innen in kirchlichen Betrieben. Der staatliche Gesetzgeber hat über Jahrzehnte hinweg toleriert, dass die Kirchen ihr Selbstordnungs- und -verwaltungsrecht in den Schranken der für alle geltenden Gesetze hinsichtlich des Arbeitsrechts allein auslegen können und vor allem ausgedehnt haben. Es ist längst überfällig, dass die Regierung diese Verselbständigung nun einer Überprüfung unterziehen will. ver.di und DGB setzen sich seit vielen Jahren mit Nachdruck dafür ein und unterstützen dieses Vorhaben.
Gleichwohl ist es enttäuschend, dass es der Regierungskoalition nicht gelungen ist, sich auf die Absicht der Abschaffung der kirchlichen Nebenrechtsordnung im Arbeitsrecht zu verständigen. Es geht lediglich um eine Überprüfung einer möglichen Angleichung an staatliches Arbeitsrecht, gemeinsam mit den Kirchen und ohne definierten Zeithorizont. Diese Vereinbarung bleibt insofern weit hinter dem zurück, was Bündnis 90/Die Grünen und FDP in ihren Wahlprogrammen vorgesehen hatten. Sie ist dem Wahlversprechen der SPD inhaltlich am nächsten, denn darin war die gemeinsame Erarbeitung eines Weges mit den Kirchen benannt worden.
Zu „den Kirchen“ zählen in diesem Kontext der Koalitionsvereinbarung aus gewerkschaftlicher Sicht vor allem die Beschäftigten, deren Interessenvertretungen und Gewerkschaft. Sie müssen in einem transparenten Prozess maßgeblich beteiligt werden, denn es geht um die Stärkung ihrer Rechte – nicht die Rechte der Kirchen als Religionsgesellschaften und Arbeitgeber, ihrer Wohlfahrtsverbände als Arbeitgeber oder deren Wirtschaftsunternehmen als Arbeitgeber.
ver.di fordert die Abschaffung des kirchlichen Sonderstatus im Arbeitsrecht. Dazu zählen:
Verglichen mit anderen Vorhaben im Koalitionsvertrag, die konkrete, erste Schritte und zeitliche Fristen benennen, handelt es sich hier um eine sehr weiche Formulierung. Genau genommen ist sie noch nicht einmal eine Absichtserklärung, eine Veränderung den kirchlichen Sonderstatus konkret anzugehen. Es handelt sich lediglich um eine Prüfungsabsicht. Hinzu kommt, dass die Prüfung nicht ausschließlich durch den staatlichen Gesetzgeber erfolgen soll, sondern gemeinsam mit „den“ Kirchen. Soweit die Kirchen und deren Wirtschaftsunternehmen als Arbeitgeber damit gemeint sind, sollen demnach diejenigen ihren Sonderstatus im Arbeitsrecht kritisch prüfen, die selbst am meisten davon profitieren. Vergleichbar wäre, als würde der klima- und sozialgerechte Umbau der Autoindustrie ausschließlich mit den Konzernleitungen besprochen werden. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist eine Angleichung also vor allem gemeinsam mit den Beschäftigten, deren Interessenvertretungen und Gewerkschaft zu prüfen.
Alle drei Koalitionsparteien hatten in ihren Wahlprogrammen Vorhaben formuliert. Sie waren unterschiedlich in ihrer Qualität in Bezug auf ihren Willen, die kirchliche Nebenrechtsordnung im Arbeitsrecht anzugehen. Ein Vergleich zwischen den entsprechenden Auszügen aus den Wahlprogrammen und der Vereinbarung im Koalitionsvertrag lässt den Schluss zu, dass sich die SPD durchgesetzt haben dürfte, obgleich sie die am wenigsten weitreichenden Absichten formuliert hatte. Sie drehten sich um eine Angleichung des kirchlichen Arbeitsrechts, dessen Weg mit den Kirchen gemeinsam erarbeitet werden sollte. Die FDP wollte die Abschaffung anstreben, soweit es nicht religiöse Funktionen betrifft. Letzteres teilten die Grünen inhaltlich und benannten außerdem konkrete Handlungsfelder für Reformen und die Abschaffung gesetzlicher Ausnahmen zu Gunsten kirchlicher Arbeitgeber. Insbesondere von den Forderungen von FDP und Grünen ist in der jetzigen Koalitionsvereinbarung hinsichtlich des kirchlichen Arbeitsrechts nur ein wachsweiches Fragment übriggeblieben.
SPD: „Gemeinsam mit den Kirchen wollen wir einen Weg erarbeiten, ihr Arbeitsrecht dem allgemeinen Arbeits- und Tarifrecht sowie der Betriebsverfassung anzugleichen."
FDP: „Ebenso müssen kirchliche Privilegien im Arbeitsrecht abgeschafft werden, soweit sie nicht Stellen betreffen, die eine religiöse Funktion ausüben."
Bündnis 90/Die Grünen: „So wollen wir, dass beispielsweise das kirchliche Arbeitsrecht reformiert und die gewerkschaftliche Mitbestimmung gefördert wird sowie die Ausnahmeklauseln für die Kirchen im Betriebsverfassungsgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgehoben werden. Der religiöse Verkündigungsbereich bleibt hiervon unberührt."
Die neue Regierungskoalition wird ihr Vorhaben deutlich konkretisieren müssen. ver.di wird als zuständige Gewerkschaft in den kommenden vier Jahren nicht nur nachdrücklich darauf hinwirken. Sondern ver.di wird sich auch dafür einsetzen, dass es unter Einbeziehung derjenigen geschieht, um deren Rechte es hier geht: Beschäftigte, deren betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaft. Einen Prozess zur Überprüfung und Abschaffung der kirchlichen Nebenrechtsordnung im Arbeitsrecht ohne ihre Beteiligung, eventuell nur mit den Religionsgesellschaften, ihren Wohlfahrtsverbänden und deren Wirtschaftsunternehmen, lehnt ver.di ab.