»Es gerät etwas in Bewegung«

23.02.2022
Georg Schulze Georg Schulze ist im ver.di-Landesbezirk Hessen für das Gesundheitswesen zuständig.


Tarifverträge sind in kirchlichen Einrichtungen immer noch die Ausnahme. ver.di hat nun für mehrere Träger der diakonischen Altenhilfe in Hessen einen Tarifvertrag abgeschlossen. Was bringt er den insgesamt etwa 1.450 Beschäftigten?

Kürzere Arbeitszeiten, verlässlichere Dienstpläne und für die meisten mehr Geld. Insgesamt steigen die Personalaufwendungen der beteiligten Arbeitgeber infolge des Tarifvertrags um acht bis zehn Prozent. Wichtig ist unter anderem, dass wir eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf 38,5 Stunden erreicht haben. In der Diakonie Kurhessen-Waldeck muss bislang 39, in Hessen-Nassau 40 Stunden pro Woche gearbeitet werden. Auch die Garantie, dass man innerhalb von 14 Tagen ein zusammenhängendes freies Wochenendes hat, ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

In welcher Relation steht der Diakonie-Tarifvertrag zum Tarifniveau des öffentlichen Dienstes?

Bis zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) sind noch ein paar Meter zurückzulegen. Wir liegen wie gesagt etwa acht bis zehn Prozent über den Arbeitsvertragsrichtlinien der hessischen Diakonie – für die betroffenen Kolleginnen und Kollegen ist der Tarifvertrag also eine deutliche Verbesserung. Aber die volle Angleichung an den TVöD ist uns im ersten Schritt noch nicht gelungen. Je nach Entgeltgruppe liegen wir noch fünf bis sechs Prozent unter diesem Niveau. Die Lücke vollends zu schließen, bleibt Aufgabe für die Zukunft.

Bislang galt in den betroffenen Einrichtungen der sogenannte Dritte Weg, bei dem die Löhne und Arbeitsbedingungen in kircheninternen Arbeitsrechtlichen Kommissionen festgelegt wurden. Welche Vorteile hat es für die Beschäftigten, dass es nun stattdessen einen Tarifvertrag gibt?

Dies ist für die Beschäftigten die Chance, ihre Arbeitsbedingungen endlich selbst zu gestalten. Im Dritten Weg sind sie außen vor und haben keinen Einfluss. Wir versuchen, den Kolleginnen und Kollegen bewusst zu machen, dass erfolgreiche Tarifpolitik von ihrem Engagement abhängt. Viele haben das verstanden und sind ver.di-Mitglied geworden – trotz Corona-Pandemie, die die Mobilisierung deutlich erschwert hat. Insgesamt ist in den beteiligten Einrichtungen jetzt gut ein Viertel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. In einigen Betrieben liegt der Organisationsgrad noch deutlich höher, bei der DiaCom Altenhilfe Eschwege ist die Mehrheit ver.di-Mitglied. Mit den vielen neuen und selbstbewussten Mitgliedern trauen wir uns zu, den Tarifvertrag weiter zu verbessern, wenn er Ende nächsten Jahres ausläuft.

 

Wenn die Beschäftigten vorher nicht so gut organisiert waren, wie ist es da überhaupt zum Tarifabschluss gekommen?

Die Tarifverhandlungen haben sich unter eher ungewöhnlichen Umständen entwickelt. Auch vor dem Hintergrund der neuen Gesetzeslage, die Pflegeeinrichtungen die Zahlung von Tariflöhnen vorschreibt, hatte sich in Hessen ein diakonischer Arbeitgeberverband gebildet und war auf uns zugekommen. Doch nachdem wir einige Monate verhandelt und einen aus unserer Sicht annehmbaren Tarifvertrag entwickelt hatten, machten im März 2021 einige der Unternehmen einen Rückzieher und verließen den Arbeitgeberverband, weil ihnen die Kosten zu hoch waren. Das waren ausgerechnet diejenigen Unternehmen, in denen wir ganz gut organisiert sind. Deshalb stellte sich für uns die Frage, ob wir überhaupt weiterverhandeln sollten.

Welche Strategie habt ihr dann verfolgt?

Wir haben uns entschieden, die Verhandlungen zu Ende zu führen und das Inkrafttreten des Tarifvertrags davon abhängig zu machen, ob die Beschäftigten ihn mittragen und sich zu einem substanziellen Teil organisieren. Denn nur so können wir sicherstellen, dass wir in künftigen Verhandlungen die nötige Durchsetzungskraft haben. Dafür haben wir nun gute Ansätze geschaffen. Und wir haben einen Flächentarifvertrag, dem andere diakonische Einrichtungen beitreten können. Es ist nicht praktikabel, in jedem Pflegeheim einzeln Haustarifverhandlungen zu führen. Unser Ziel ist es, überall den TVöD zum Standard zu machen. Der nun erreichte Flächentarifvertrag ist zumindest ein deutlicher Schritt in diese Richtung.

Es besteht also die Hoffnung, dass der Tarifabschluss auf andere Einrichtungen ausstrahlt?

Ja. Wir fordern alle diakonischen Träger auf, sich dem Tarifvertrag anzuschließen. Die ersten zwei diakonischen Einrichtungen haben bereits beantragt, Mitglied im Arbeitgeberverband zu werden. Wir führen in jedem der neu hinzukommenden Betriebe Überleitungsverhandlungen. Zum einen, um die jeweiligen spezifischen Bedingungen abzubilden, zum anderen, weil alle ver.di-Mitglieder bei Einführung des Tarifvertrags eine Einmalzahlung von 150 Euro erhalten. Klar: Das muss auch in den Einrichtungen gelten, die dem Tarifvertrag erst später beitreten.

Etliche, vor allem kommerzielle Pflegeunternehmen sind dennoch weiter ohne Tarifbindung.

Ja, und das muss sich ändern. Der Gesetzgeber muss sein Versprechen umsetzen und für flächendeckende Tarifstandards in der Altenpflege sorgen. Es gibt erste positive Entwicklungen, nicht nur den Tarifvertrag in der hessischen Diakonie. Auf Bundesebene bahnen sich Tarifverhandlungen von ver.di mit dem Pflegeunternehmen Vitanas an, das auch in Hessen Einrichtungen betreibt. Ein kommerzieller Träger im nordhessischen Bad Wildungen hat uns um Sondierungsgespräche gebeten. In Sachen Tarifbedingungen in der Altenpflege gerät also etwas in Bewegung. Wie weit das geht, hängt auch von politischen Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene ab. ver.di wird diesen Prozess aktiv begleiten und weiter eine deutliche und dauerhafte Verbesserung der Arbeitsbedingungen einfordern.

 

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