Ein Interview mit den Mitarbeitervertretern und engagierten ver.di-Mitgliedern Tobias Warjes und Daniel Wenk
Kirchen.info: Erstmals haben SPD, Grüne und FDP die Angleichung des kirchlichen an das staatliche Arbeitsrecht zum Thema eines Koalitionsvertrags gemacht. Welche Bedeutung hat das?
Tobias Warjes: Dass die arbeitsrechtliche Sonderstellung der Kirchen von der Bundespolitik nun aufgegriffen wird, ist ein Meilenstein. Die Frage wird von den Koalitionären zwar nicht klar ausgesprochen, liegt aber auf dem Tisch: Ist ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht überhaupt noch zeitgemäß?
Und, ist es das?
Tobias Warjes: Ganz klar nein. Die christlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas agieren am sogenannten Sozialmarkt nicht anders als privatwirtschaftlich geführte Unternehmen. Dennoch haben ihre Beschäftigten deutlich weniger Rechte. Für zentral halte ich hier die Frage der Unternehmensmitbestimmung, die es bei uns de facto nicht gibt. Die Folge ist, dass die Beschäftigten konfessioneller Einrichtungen in den Aufsichtsgremien nur sehr rudimentär oder gar nicht vertreten sind. In der Diakonie gibt es lediglich eine Verbandsempfehlung zur Unternehmensmitbestimmung, die aber so gut wie nicht umgesetzt wird.
Daniel Wenk: Wie in der Privatwirtschaft gibt es auch im Bereich der Kirchen eine starke Tendenz zur Zentralisierung und Bildung großer Konzerne. Aktuelles Beispiel ist der Zusammenschluss der katholischen Stiftungen St. Franziskus und Marienhaus, wodurch der viertgrößte Krankenhausbetreiber entsteht. In der Diakonie gibt es mit Agaplesion einen riesigen Player mit über 1,6 Milliarden Euro Jahresumsatz. Je größer die Konzerne sind, umso wichtiger ist es, dass Beschäftigte über die Unternehmensmitbestimmung frühzeitig über unternehmerische Entscheidungen informiert sind und Einfluss nehmen können. Doch in kirchlichen Betrieben ist dieser Weg blockiert, die Mitarbeitervertretungen werden meist vor vollendete Tatsachen gestellt.
Seht Ihr auch bei der betrieblichen Mitbestimmung selbst Veränderungsbedarf?
Daniel Wenk: Auch in diesem Bereich ist die Angleichung – sprich: Abschaffung – des kirchlichen Sonderrechts überfällig. Es hat für die Beschäftigten nur Nachteile. Zwar sind Mitarbeitervertretungen etwas weiter verbreitet als Betriebsräte in der Privatwirtschaft. Doch ihre Einflussmöglichkeiten sind deutlich begrenzter. Gegenüber dem Betriebsverfassungsgesetz gibt es eine Vielzahl von Benachteiligungen, die in der Summe eine wirksame Interessenvertretung deutlich erschweren. Mit einer starken Beteiligung der Beschäftigten kann man allerdings trotzdem etwas erreichen.
Tobias Warjes: Das sehe ich auch so. Die Mitbestimmungsrechte sind in vielen Bereichen weniger stark als im Betriebsverfassungsgesetz. Auch die Regularien zur Bearbeitung von Konflikten sind zum Nachteil der Beschäftigten. Es gibt eine eigene Gerichtsbarkeit und selbst wenn ein Kirchengericht im Sinne der Beschäftigten entscheidet, ist die Umsetzung des Beschlusses nicht garantiert. Ich könnte noch unzählige Beispiele nennen. Fakt ist: Dass staatliche Gesetze für hunderttausende Beschäftigte bei Kirchen, Diakonie und Caritas nicht gelten sollen, ist gesellschaftlich nicht akzeptabel.
Auch von der Tarifautonomie ist der Großteil von ihnen ausgenommen. Stattdessen werden Löhne und Arbeitsbedingungen auf dem kircheninternen „Dritten Weg“ festgelegt.
Tobias Warjes: Auf diesem Weg bestimmt am Ende nur eine Seite: der Arbeitgeber. Die Beschäftigten haben keinen wirklichen Einfluss und keine Durchsetzungsmöglichkeiten. Das Bundesarbeitsgericht hat so etwas einmal als »kollektives Betteln« bezeichnet. Dass es auch anders geht, zeigt sich bei uns in der Diakonie Niedersachsen. Wir haben einen echten Tarifvertrag und man sieht: es funktioniert!
Daniel Wenk: Mit dem »Dritten Weg« halten die Arbeitgeber den Interessenkonflikt zwischen ihnen und den Beschäftigten – den es in kirchlichen Einrichtungen ebenso gibt wie anderswo – aus dem Betrieb heraus. Arbeitsrechtliche Kommissionen entscheiden in Hinterzimmern über Löhne und Arbeitsbedingungen, ohne irgendeine Einbeziehung der Beschäftigten. Und selbst diese Ergebnisse sind nicht verbindlich, denn per Arbeitsvertrag kann von ihnen abgewichen werden. Mit regulären Tarifverhandlungen ist das nicht zu vergleichen.
Ein weiteres Problem ist, dass der kirchliche Sonderweg die Durchsetzung guter Arbeitsbedingungen im gesamten Gesundheits- und Sozialwesen schwächt. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes müssen alle Verbesserungen alleine erkämpfen, bei den dafür manchmal nötigen Streiks sind die rund 1,4 Millionen Beschäftigten konfessioneller Wohlfahrtseinrichtungen außen vor. Und so etwas wie die Tarifbewegung für Entlastung in öffentlichen Krankenhäusern, bei der Beschäftigte in harten Konflikten bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal durchsetzen, sind auf dem »Dritten Weg« undenkbar.
Für alle sichtbar geworden sind die Folgen des kirchlichen Sonderwegs bei der Auseinandersetzung um einen flächendeckenden Tarifvertrag in der Altenpflege, den Caritas und Diakonie blockiert haben.
Daniel Wenk: In der Tat. Dass sich die Kirchen im Arbeitnehmerentsendegesetz ein Vetorecht sichern konnten, ist ein Unding. Die Arbeitgeber in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von Caritas und Diakonie haben das genutzt, um den »Dritten Weg« – und damit ihren eigenen Wettbewerbsvorteil – zu schützen. Dass sie so die Aufwertung zehntausender Beschäftigter in der Altenhilfe insbesondere bei kommerziellen Trägern verhindert haben, ist für mich der Jahrhundertskandal des kirchlichen Arbeitsrechts.
Wie erklärt Ihr Euch, dass die Frage einer Angleichung ans staatliche Recht nach vielen Jahren nun endlich auf die Agenda gesetzt wird?
Tobias Warjes: Ich sehe mehrere Gründe: Die erhöhte Aufmerksamkeit für die wichtige Arbeit der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen während der Corona-Pandemie und die öffentlichen Debatten über Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Nicht zuletzt hat auch die bereits angesprochene Blockade des flächendeckenden Tarifvertrags in der Altenpflege durch die kirchlichen Arbeitgeber eine Rolle gespielt. Diese hat das Thema ins öffentliche Bewusstsein gerückt und war sicher ein Faktor, warum es nun im Koalitionsvertrag auftaucht. Unsere gewerkschaftlichen Aktivitäten haben dazu nicht unerheblich beigetragen.
Daniel Wenk: Das denke ich auch. Das Veto gegen tarifliche Mindestbedingungen in der Altenpflege könnte ein Sargnagel für das kirchliche Sonderrecht gewesen sein. Denn damit haben die Arbeitgeber deutlich gezeigt, dass sie ihre eigenen Interessen über die Belange der Allgemeinheit stellen. Das Agieren von ver.di war in diesem Prozess entscheidend – sowohl der Abschluss des Tarifvertrags selbst als auch die gute Öffentlichkeitsarbeit während der Auseinandersetzung.
Die Formulierung im Koalitionsvertrag ist allerdings sehr unverbindlich.
Daniel Wenk: Das stimmt. FDP und Grüne hatten in ihren Wahlprogrammen ursprünglich ehrgeizigere Ziele, offenbar hat sich in diesem Punkt die SPD durchgesetzt. Ich sehe zwei große Probleme: Zum einen ist es eine sehr weiche Formulierung, weshalb wir als kirchliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dem Nachdruck verleihen müssen. Es darf nicht bei einer Prüfung der Angleichung ans staatliche Arbeitsrecht bleiben – diese muss am Ende auch umgesetzt werden. Das zweite große Einfallstor sehe ich in der geplanten Ausnahme für sogenannte verkündungsnahe Tätigkeiten. Das muss sehr eng definiert werden. Die Arbeit am Menschen ist nicht an sich verkündungsnah, sondern Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, die von kirchlichen Wirtschaftsunternehmen erbracht wird.
Tobias Warjes: Ganz wichtig ist: Wenn die Koalition die Angleichung des Arbeitsrechts »gemeinsam mit den Kirchen prüfen« will, kann das für mich nur heißen, dass sie das gemeinsam mit den kirchlichen Beschäftigten tut. Es kann nicht sein, dass ausschließlich die Kirchenspitze beteiligt wird. Denn es sind die Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen, die es letztlich betrifft. Deshalb müssen ihre betrieblichen Interessenvertretungen und ihre Gewerkschaft ver.di in einem transparenten Prozess einbezogen werden.
Wie groß ist Eure Hoffnung, dass sich trotz der recht weichen Formulierungen im Koalitionsvertrag in der Praxis tatsächlich etwas ändert?
Tobias Warjes: Ich habe durchaus die Hoffnung, dass jetzt etwas in Gang kommt. Dabei kommt es auch auf uns als Beschäftigte, Interessenvertretungen und Gewerkschafter*innen an. Es hängt davon ab, wie deutlich wir unsere Meinung kundtun und wie sehr wir uns dafür einsetzen. Von alleine wird wahrscheinlich wenig passieren. Wir alle, die wir davon betroffen und mit den Zuständen unzufrieden sind, müssen etwas dafür tun, dass sich etwas ändert. Es ist das erste Mal, dass so etwas in einem Koalitionsvertrag steht. Für uns ist das eine große Chance, uns Gehör zu verschaffen und lautstark für die Beendigung des kirchlichen Sonderwegs im Arbeitsrecht einzutreten.
Daniel Wenk: Dazu gehört meiner Ansicht nach auch, dass wir als Beschäftigtenvertreter*innen unsere eigene Rolle selbstkritisch hinterfragen. Die überbetrieblichen Zusammenschlüsse der Mitarbeitervertretungen sind wichtig. Sie sind aber keine Ersatzgewerkschaften. Das müssen wir immer wieder klar machen: Wir brauchen die gleichen Rechte wie im weltlichen Bereich. Und diese Rechte müssen wir uns auch selbst nehmen. Zum Beispiel, indem wir im Rahmen der aktuellen Tarifbewegung für Entlastung und Aufwertung im Sozial- und Erziehungsdienst dort, wo das wie in der Evangelischen Kirche Baden rechtlich möglich ist, zu Partizipationsstreiks mobilisieren. Letztlich liegt es an uns.
Dieser Artikel ist im Kirchen.info Nr. 39 erschienen.