Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kirchlichen Betrieben arbeiten unter denselben Voraussetzungen wie Beschäftigte nicht kirchlicher Einrichtungen. Es herrscht der gleiche Kostendruck und oft verhalten sich konfessionelle Arbeitgeber nicht anders als andere Unternehmen. Dennoch haben kirchlich Beschäftigte nur schwächere Möglichkeiten, über die Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen mitzubestimmen. Denn es gelten eigene kirchliche Regeln. Der Gesetzgeber hat es in der Hand, für gleiches Recht zu sorgen. Das fordern ver.di-Aktive mit der Petition »Gleiches Recht für kirchlich Beschäftigte«.
Betriebliche Mitbestimmung erfüllt einen wichtigen Zweck. Sie soll das Direktionsrecht des Arbeitgebers begrenzen und einen sozialen Ausgleich zwischen den Interessen der Beschäftigten und denjenigen des Arbeitgebers ermöglichen. Der Arbeitgeber organisiert den Betrieb, legt Arbeitsabläufe fest, stellt ein, kündigt, versetzt und anderes mehr. Er verfügt über alle finanziellen und materiellen Mittel, die Beschäftigten sind auf ihren Lohn angewiesen und müssen ihre Arbeitskraft verkaufen. Deshalb besteht zwischen beiden Seiten ein strukturelles Machtungleichgewicht. Um die mögliche Willkür der Arbeitgeber zu beschränken, können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Interessenvertretungen im Betrieb wählen. Sie verfügen über rechtlich verbriefte Beteiligungsrechte, die sie einfordern können und die der Arbeitgeber berücksichtigen muss.
Während in privaten Betrieben das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und in öffentlich-rechtlichen Einrichtungen die Personalvertretungsgesetze gelten, sind kirchliche Betriebe davon ausgenommen. Das Betriebsverfassungsgesetz gilt explizit nicht für konfessionelle Einrichtungen (vgl. § 118 Abs. 2 BetrVG). Das war nicht immer so. Das 1920 verabschiedete Betriebsrätegesetz galt auch für kirchliche Betriebe. Bei der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952 konnten die Kirchen hingegen die bis heute geltende Ausnahme für sich durchsetzen. Der Bundestag hat das Gesetz seinerzeit beschlossen. Er könnte es jederzeit ändern.
Statt staatlicher Mitbestimmungsrechte gelten für kirchlich Beschäftigte eigene, kirchliche Regeln. In der katholischen Kirche gibt es die sogenannte Rahmenordnung der Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO), in der evangelischen Kirche das sogenannte Mitarbeitervertretungsgesetz der Evangelischen Kirche Deutschlands (MVG-EKD). Beide sind keine Gesetze, sondern kirchenrechtliche Regelungen. Sie werden von den Kirchen selbst beschlossen. Zudem besteht weder innerhalb der katholischen noch der evangelischen Kirche eine Pflicht, die Regelungen einheitlich anzuwenden. Sie müssen jeweils in Kraft gesetzt werden, gegebenenfalls auch mit Änderungen. Im katholischen Bereich müssen es die Bischöfe jeweils für ihre 27 Erz-/Diözesen tun, bei den 20 evangelischen Landeskirchen beschließen die jeweiligen Synoden darüber. Die Folge ist, dass die betriebliche Mitbestimmung in den verschiedenen kirchlichen Gliederungen unterschiedlich geregelt ist. Das obwohl zugleich kirchliche Sozial- und Gesundheitskonzerne entstehen, die bundesweit tätig sind, Milliardenumsätze verbuchen und zehntausenden Menschen beschäftigten. Die kirchlichen Territorialgrenzen spielen für sie keine Rolle.
Das kirchliche Mitbestimmungsverfahren fußt auf einem anderen Grundsatz als das Betriebsverfassungsgesetz, es folgt einem Über-Unter-Verhältnis von Arbeitgeber und Interessenvertretung. Beabsichtigt ein Arbeitgeber, eine soziale oder organisatorische Maßnahme durchzuführen, kann er im kirchlichen Beteiligungsverfahren grundsätzlich davon ausgehen, dass er sie durchführen können wird. Im Gegensatz dazu muss ein Arbeitgeber in nichtkirchlichen Betrieben die explizite Zustimmung des Betriebsrats erhalten, bevor er handeln darf. Der Grund dafür liegt in den Vorschriften zum Verfahren im kirchlichen Bereich (vgl. z.B. § 38 MVG). Es enthält bürokratische, fixierte Fristvorschriften und erzeugt eine hohe Fehleranfälligkeit – zum Nachteil der Mitarbeitervertretungen.
In der Praxis bedeutet das zusätzliche Hürden für die Mitarbeitervertretungen. Wegen abgelaufener Fristen oder formaler Fehler können sie häufig nicht über vom Arbeitgeber geplante Maßnahmen mitbestimmen. Denn reagiert die Mitarbeitervertretung nicht innerhalb der gesetzten Frist oder in der vorgeschriebenen Art und Weise, gilt eine fiktive Zustimmung. In der Folge kann der Arbeitgeber umsetzen, was er geplant hat. Ein wirklicher sozialer Ausgleich findet in diesem Fall nicht statt, weil der Arbeitgeber sich nicht mit der Interessenvertretung auseinandersetzen musste. Das Betriebsverfassungsgesetz setzt hingegen auf verständige Betriebsparteien. Es gibt keine fiktive Zustimmung in sozialen und organisatorischen Angelegenheiten. Der Arbeitgeber ist stets gefordert, sich mit dem Betriebsrat auseinanderzusetzen, zu überzeugen bzw. Kompromisse zu verhandeln.
Zu diesem grundsätzlichen Verfahrensnachteil kirchlicher Mitbestimmung kommen schwächere und weniger wirksame Rechte und Durchsetzungsmöglichkeiten für Mitarbeitervertretungen als zum Beispiel im Betriebsverfassungsgesetz. Eine wirksame Interessenvertretung erfordert unter anderem zeitliche Ressourcen und Möglichkeiten zur Qualifizierung. Kirchliche Mitarbeitervertretungen haben jedoch weniger Freistellungsmöglichkeiten als Betriebsräte und sind im Umfang ihrer Fortbildungen begrenzt. Es ist inakzeptabel, dass zum Beispiel bei der katholischen Kirche Seminarangebote für Mitarbeitervertretungen erst vom Bischof genehmigt werden müssen. Das wäre so, als könne eine Konzernleitung darüber entscheiden, welche Fortbildungen für die Betriebsräte in ihrem Unternehmen geeignet sind.
Im Fall von Streitigkeiten zwischen Mitarbeitervertretung und Arbeitgeber – zum Beispiel über Dienstpläne oder Maßnahmen zum Gesundheitsschutz – können beide Seiten das Einigungsstellenverfahren anrufen. Betriebsräte sind dabei grundsätzlich nicht begrenzt, wie sie ihre Seite in der Einigungsstelle besetzen. Die Kirchen sehen unterschiedliche Regeln vor, die unter anderem die Anzahl der Beisitzenden begrenzen oder sogar vorschreiben, welcher Konfession jemand sein muss, um in der Einigungsstelle mitarbeiten zu dürfen.
Verletzt ein kirchlicher Arbeitgeber die Mitbestimmungsrechte einer Mitarbeitervertretung, kann diese vor ein Kirchengericht ziehen. Betriebsräten steht in diesem Fall der Gang zum Arbeitsgericht offen. Es existieren deutlich weniger kirchliche Gerichte als Arbeitsgerichte, was die Verfahrensdauer erheblich verlängern kann. Das ist insbesondere bei kurzfristig notwendigen Regelungen problematisch. Wichtig ist die Tatsache, dass Arbeitgeber sich an Beschlüsse des Arbeitsgerichts zu halten hat und diese umsetzen muss. Tut er es nicht, können ihm für jeden Verstoß Ordnungs- und Zwangsgelder auferlegt werden. Diese Strafen können staatlich vollstreckt werden. Für Beschlüsse von Kirchengerichten gilt das nicht. Selbst wenn eine Mitarbeitervertretung vor Gericht Recht bekommt kann der Arbeitgeber den Beschluss ignorieren. Die Einhaltung bzw. Umsetzung der Entscheidung kann gegenüber dem Arbeitgeber nicht durchgesetzt werden. Kirchliche Arbeitgeber können sich also freiwillig unterwerfen oder es sein lassen. Ein solches System des Rechtsschutzes, das auf den »guten Willen« der anderen Seite angewiesen ist, ist abzulehnen. Ein ausführlicher Vergleich zwischen Betriebsverfassungsgesetz und kirchlicher Mitbestimmung findet sich hier.
Ein wesentlicher Bestandteil der Betriebsverfassung in Deutschland sind die Rechte von Gewerkschaften. Doch in den kirchlichen Regelungen kommt das Wort Gewerkschaft nicht einmal vor, geschweige denn, dass Gewerkschaften wie im Betriebsverfassungsgesetz verbriefte Rechte hätten. Gewerkschaften werden auf diese Weise systematisch aus der kirchlichen betrieblichen Mitbestimmung herausgehalten. Das nützt nur den Arbeitgebern. Analog zum Betriebsverfassungsgesetz wäre es zweckmäßig und zwingend erforderlich, dass die Gewerkschaften auch in kirchlichen Einrichtungen Rechte in Anspruch nehmen können. Sie fördern die Bildung von betrieblichen Interessenvertretungen, unterstützen diese mit ihrer Expertise und sichern, dass Beschäftigte effektiv auf ihre Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen können. Durch eine rechtlich gesicherte Zusammenarbeit von Gewerkschaften mit den betrieblichen Interessenvertretungen werden deren Handlungsmöglichkeiten wesentlich gestärkt.
Die Ampelregierung aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP hat sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen, die Mitbestimmungsrechte der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften im Betrieb zu stärken. Dafür ist eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes angekündigt. Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Gewerkschaftsbund im April 2022 umfassende Reformvorschläge vorgelegt, die vor allem eine Stärkung der erzwingbaren Mitbestimmungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten, bei der Qualifizierung von Beschäftigten etc. sowie der Rechte von Gewerkschaften u.a.m. vorsehen. Die Gewerkschaften haben konkrete Vorschläge vorgelegt, wie sich die Mitbestimmung in Zeiten von Transformation der Arbeit, Krisen und einer globalisierten Unternehmenswelt zugunsten der abhängig Beschäftigten verändern muss.
Während diese richtungsweisende Debatte in nichtkirchlichen Betrieben und im politischen Raum Fahrt gewinnt, bleiben kirchlich Beschäftigte mit einem schwächeren Mitbestimmungsrecht abgehängt. Daran ändern auch geringfügige Veränderungen nichts, zum Beispiel die von der evangelischen Kirche für Herbst 2023 geplante Novellierung ihres Mitarbeitervertretungsrechts. Der staatliche Gesetzgeber ist gefordert. § 118 BetrVG sollte neu gefasst werden und die explizite Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes für konfessionelle Einrichtungen festschreiben. Mindestens sollte § 118 Abs. 2 BetrVG gestrichen werden. Es ist Zeit, dass der Gesetzgeber die Mitbestimmungsrechte der kirchlich Beschäftigten stärkt.
Jetzt unterzeichnen und weiterleiten: Petition »Gleiches Recht für kirchlich Beschäftigte«