Mit rund 1,8 Millionen Arbeitnehmer*innen sind die christlichen Kirchen nach dem öffentlichen Dienst die größten Arbeitgeber in Deutschland. Davon sind rund 1,4 Millionen in den Unternehmen der Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas beschäftigt. Für sie alle gelten kirchliche Regeln, die ihre Rechte als Arbeitnehmer*innen einschränken. Mit dieser Benachteiligung muss endlich Schluss sein.
Kirchliche Arbeitgeber betreiben Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und -dienste, Einrichtungen der Behinderten- und Jugendhilfe, Rettungsdienste, Kitas u.a.m. Wie bei anderen Trägern werden diese fast ausschließlich aus Steuermitteln und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert. Sie konkurrieren mit nicht-konfessionellen Trägern um Klient*innen und Arbeitskräfte. Sie betreiben Tarifflucht und Outsourcing, nutzen Leiharbeit und sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnisse. Sie verhalten sich wie andere Arbeitgeber, beharren aber auf Sonderregeln im Arbeitsrecht.
Arbeitsrecht ist vor allem Arbeitnehmerschutzrecht. Die Kirchen könnten es ohne Einschränkungen anwenden. Stattdessen nutzen sie gesetzliche Ausnahmen und machen von ihrem Privileg Gebrauch, eigene Regeln festzulegen – häufig zu Lasten der Beschäftigten. Doch das muss nicht so bleiben. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, das zu ändern.
Die Kirchen dürfen nicht tun, was sie wollen. Das Grundgesetz räumt ihnen das Recht ein, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten. Dabei haben sie sich aber an das für alle geltende Recht zu halten, wenn sie Arbeitsverhältnisse schließen. Das sieht auch der Europäische Gerichtshof so.
Der Austritt aus der Kirche ist ein Kündigungsgrund. Denn dann betätigen sich Beschäftigte nach Ansicht der Kirchen „kirchenfeindlich“. Ist ein Mensch aus der Kirche ausgetreten und möchte bei einem katholischen Arbeitgeber arbeiten, soll er gar nicht erst eingestellt werden. Wer sich in einer Weise äußert, die der katholischen Kirche missfällt, kann ebenfalls gekündigt werden. Der Gesetzgeber muss diese pauschalen Privilegien zur Diskriminierung kirchlich Beschäftigter beenden.
Eine Ausnahme im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ermöglicht bislang die Ungleichbehandlung von Beschäftigten der Kirchen. Allerdings geht sie weiter als es das EU-Recht zulässt. Der Gesetzgeber muss § 9 AGG unionsrechtskonform ausgestalten, am besten aber ersatzlos streichen.
Die Kirchen leisten sich ein eigenes betriebliches Mitbestimmungsrecht. Beschäftigte können eine Mitarbeitervertretung wählen, allerdings sind deren Mitbestimmungsrechte weniger wirksam und ihre Durchsetzung ist schwieriger als im Betriebsverfassungsgesetz. Zudem hat die kirchliche Mitarbeitervertretung geringere Ansprüche auf erforderliche Ressourcen, was ihre wichtige Arbeit zusätzlich erschwert. Der Gesetzgeber muss für eine Stärkung der betrieblichen Interessenvertretungen in kirchlichen Betrieben sorgen, denn sie haben die gleichen Herausforderungen wie in nicht-kirchlichen Betrieben zu bewältigen.
Kirchliche Mitbestimmung im Vergleich
Das staatliche Mitbestimmungsrecht nimmt kirchliche Einrichtungen aktuell aus. Es gelten weder das Betriebsverfassungsgesetz noch Personalvertretungsgesetze. Der Gesetzgeber muss diese Ausnahmen nur streichen (u.a. § 118 Abs. 2 BetrVG), damit die staatliche Mitbestimmung auch in kirchlichen Einrichtungen vollständig angewendet werden kann. Für eine umfassende Stärkung der Mitbestimmungsrechte ist außerdem die Streichung des sogenannten Tendenzschutzes erforderlich (§ 118 BetrVG). Die darin enthaltenen Einschränkungen der Mitbestimmung, zum Beispiel bei personellen Einzelmaßnahmen oder Wirtschaftsausschüssen, gehören abgeschafft.
Arbeitnehmer*innen tragen zum Erfolg eines Unternehmens wesentlich bei und hängen in ihrer wirtschaftlichen Existenz von Entscheidungen der Leitung ab. Deshalb müssen nicht-kirchliche Unternehmen ab einer gewissen Beschäftigtenzahl Aufsichtsräte bilden, in denen auch die Arbeitnehmer*innen vertreten sind. Den Beschäftigten kirchlicher Unternehmen wird dieses Recht vorenthalten. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass diese Form der demokratischen Teilhabe möglich wird, denn es gibt immer mehr kirchliche Konzerne mit zehntausenden Beschäftigten und Milliardenumsätzen.
Die staatliche Unternehmensmitbestimmung nimmt kirchliche Einrichtungen aktuell aus. Weder das Mitbestimmungsgesetz noch das Drittelbeteiligungsgesetz gelten. Der Gesetzgeber muss diese Ausnahmen nur streichen (u.a. § 1 Abs. 4 S. 2 MitbestG), damit die demokratische Unternehmensmitbestimmung auch in kirchlichen Einrichtungen angewendet werden kann.
Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Denn Tarifverträge können nicht einseitig durchgesetzt werden, sondern sind Ergebnis einer Einigung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Was sie kollektiv regeln, hat eine unmittelbare und zwingende Wirkung. Kirchliche Regelungen sind hingegen keine Tarifverträge. Sie besitzen keine kollektive Wirkung, sondern wirken ausschließlich durch die Anwendung im einzelnen Arbeitsvertrag. Dennoch werden sie regelmäßig durch gesetzliche Zusatzregelungen unberechtigterweise mit Tarifverträgen gleichgesetzt. Diese Praxis muss der Gesetzgeber beenden.
Beispiele für Gesetze, bei denen Tarifverträge und kirchliche Regeln gleich behandelt werden: Arbeitszeitgesetz (z.B. verkürzte Ruhezeiten), Jugendarbeitsschutzgesetz (z.B. Abweichung von den Ruhezeiten), Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (Höchstüberlassungsdauer), Nachweisgesetz (Nachweispflicht), Pflegeberufegesetz (Ausbildungsbudget)
Die Kirchen beharren auf eigene Regelungen im Arbeitsrecht. Sie ordnen damit die Rechte von Beschäftigten den Interessen kirchlicher Arbeitgeber unter. Die Kirchen haben die verfassungsmäßigen Grenzen ihres Selbstverwaltungs- und Selbstordnungsrechts ausgedehnt und der Gesetzgeber hat ihnen gesetzliche Sonderregelungen zugestanden. Doch die aktuelle Regierungskoalition hat vereinbart, das kirchliche Arbeitsrecht auf den Prüfstand zu stellen. Gut so! Es ist an der Zeit, die Arbeitnehmerrechte in kirchlichen Betrieben zu stärken. Dafür sind konkrete Gesetzesänderungen nötig und möglich, um Diskriminierung von Beschäftigten zu verhindern und ihnen eine wirksamere demokratische Teilhabe zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.
Das Arbeitsrecht regelt vor allem die Schutz- und Beteiligungsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Deshalb müssen ihre Vertretungen an der Diskussion um Veränderungen im kirchlichen Arbeitsrecht beteiligt werden: die betrieblichen Interessenvertretungen ebenso wie ver.di als die maßgebliche Gewerkschaft im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen.
„Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.“ (Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP, 2021)
Tarifverträge werden zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bzw. ihren Verbänden ausgehandelt. Das ist seit mehr als 100 Jahren ein bewährtes Prinzip, um Löhne und Arbeitsbedingungen verbindlich zu regeln. ver.di fordert diese Tarifpartnerschaft ausnahmslos auch mit kirchlichen Trägern. Zwar setzen kirchliche Arbeitgeber noch mehrheitlich auf einen internen Weg nach kirchlichen Regeln. Doch gibt es auch immer mehr Tarifverträge, die zwischen ver.di und kirchlichen Arbeitgebern abgeschlossen werden – zum Beispiel im Bereich der Diakonie Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein, der evangelischen Kirche im Norden und in Berlin-Brandenburg-Schlesische-Oberlausitz, bei der Stadtmission Heidelberg oder im Bereich der diakonischen Altenhilfe in Hessen.
Ein demokratisches Grundprinzip der Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen ist, dass sich die betroffenen Beschäftigten organisieren und selbst einbringen können. Sie diskutieren mögliche Forderungen, beschließen sie, verhandeln sie selbst mit, setzen sie falls nötig gemeinsam durch und entscheiden über die Annahme von Ergebnissen. Sie werden selbst zu Akteur*innen. Das sieht der kirchliche, sogenannte Dritte Weg so nicht vor.
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat grundsätzlich ein Streikrecht. Es leitet sich aus der Koalitionsfreiheit ab, die das Grundgesetz garantiert. Eine wichtige Voraussetzung für die Ausübung dieses Rechtes ist, dass die zuständige Gewerkschaft zum Streik aufruft. Wenn ver.di kirchliche Beschäftigte zum Streik aufruft, dürfen sie streiken. ver.di-Mitglieder erhalten in diesem Fall Streikunterstützung, da der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, den Lohn während der Streikbeteiligung weiterzuzahlen.
Streik ist kein Selbstzweck. Vielmehr ist er ein notwendiges Mittel der Arbeitnehmer*innen, ihren Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Der Streik zielt darauf ab, die Bereitschaft des Arbeitgebers zu Kompromissen am Verhandlungstisch zu erhöhen. Viele Tarifverträge kommen ohne Streiks zustande. Doch wenn Arbeitgeber blockieren, können Streiks notwendig werden. Deshalb ist das Recht auf Streik ein so wichtiges Grundrecht. Es ermöglicht Arbeitnehmer*innen, auf Augenhöhe zu verhandeln.
Gewerkschaftsmitglied zu werden, im Betrieb aktiv zu sein, auch weitere Kolleg*innen zu werben ist ein Grundrecht. Es ist Teil der Koalitionsfreiheit und gilt für alle Beschäftigten – selbstverständlich auch in kirchlichen Einrichtungen. Wenn kirchliche Arbeitgeber etwas anderes behaupten, ist das falsch.
Fragen und Antworten für kirchlich Beschäftigte
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ (Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz)
Ohne Gewerkschaften sähe die Welt heute anders aus. Viele Arbeits- und Lebensbedingungen, die inzwischen selbstverständlich sind, haben Gewerkschaften durchgesetzt. Wir wollen diese Bedingungen sichern und weiterentwickeln. Dazu brauchen wir ein starkes Fundament von Mitgliedern. Jede Kollegin und jeder Kollege zählt.